- Kultur
- Kirchen
Chuck-Norris-Church
Von der Sogwirkung der Baptisten in den USA kann das europäische Christentum nur träumen
Howdy aus Texas, liebe Leser*innen,
erinnern Sie sich noch an die 90er-Kultserie »Der Prinz von Bel-Air«? Darin gesteht die dumpfbackige Cousine von Will Smith, Hilary Banks, als sie darin scheitert, einen gebildeten Mann zu verführen, wütend: »Ich habe gelogen. Ich habe wirklich geglaubt, dass Martin Luther King im Mittelalter gelebt hat!« Ich lachte damals herzlich in meinem deutschen Kinderzimmer über diesen nationen- und epochenübergreifenden, aber historisch nicht ganz korrekten Witz. Viele Jahre später, selbst ein Kind in den USA erziehend, erlebe ich ein Déjà-Vu. Als eine amerikanische Freundin mich fragt, warum Martin Luther so wichtig sei und ich auszuholen gedenke mit einem Sermon über die hierzulande paradoxerweise kaum bekannte Reformation, fällt meine Tochter mir ins Wort: »Mama, er heißt Martin Luther KING!« Das mit dem Spätmittelalter und der Frühen Neuzeit erkläre ich ihr wohl später.
News aus Fernwest: Jana Talke lebt in Texas und schreibt über amerikanische und amerikanisierte Lebensart.
Aber zurück zur Religion. Dr. Martin Luther King Jr. war Baptist, eine in Europa nicht gerade verbreitete Glaubensrichtung. In den Staaten sieht es allerdings anders aus: Rund 15 Prozent der US-Bevölkerung sind Baptisten. Und obwohl sie die Katholiken mit ihren 22 Prozent noch immer nicht überholt haben, so hat man trotzdem das Gefühl, dass der Katholizismus hier unbedeutend ist. So richtete eine Nachbarstadt ein Mardi-Gras-Fressfest aus, als schon längst die Fastenzeit angebrochen war. Die viel mächtigeren und cooleren Reformkirchen (Baptisten, Evangelikale, Methodisten, Presbyterier und andere) nehmen es eben nicht so genau mit der Katechese. Schulen veranstalten Ostereier-Suchen gar über eine Woche vor dem eigentlichen Osterfest! Dafür sind die Körbchen der Kinder hier praller gefüllt als in Europa. Eine Bekannte postete am Ostersonntag auf Facebook ein Foto von einem ganzen Wäschekorb voller Spielsachen für ihr Kind. »Jesus is risen« – und mit ihm das Haushaltsbudget.
Für das diesjährige Osterfest beschlossen wir, in eine sogenannte Megachurch einzukehren, sprich, in eine Supersize-Kirche. Eine baptistische. Eine, die Chuck Norris zur Kongregation zählt, in der der texanische Gouverneur auftritt und die ganze 7000 Plätze hat. Drei Messen werden zu Ostern hintereinander abgehalten und jedes Mal wird die Konzerthalle (anders kann man das Interieur wahrlich nicht bezeichnen) komplett voll. Mit Wehmut denke ich an die gemütliche kleine Barockkirche in Hamburg, in der ich mit meinem evangelischen Mann getraut wurde, oder an die reich verzierten gotischen Kirchen von Bordeaux, die ich während meines Austauschsemesters oft besuchte. Erhabenheit, Stille, Rührung, Weihrauch, Altarretabel, Krypta, Gesims. In Texas dagegen: Parkanweiser, Bühne, Bildschirme, Kamerateam, Fotowand und ein Footballfeld.
Der Chor allein besteht aus ca. einhundert Menschen. Seine Lieder sind plump und poppig: »Thank you Jesus for the blood applied / Thank you Jesus, it has washed me white«. Alle Versammelten wippen mit oder erheben unfreiwillig die Hand zu einem in Deutschland verbotenen Gestus. Kinder malen und albern herum. »Wie viele leere Särge kannst du finden?« steht auf dem Activity-Bogen, den meine Tochter vor der Messe bekommt. So erreicht man die Jugend! Von solch einer Sogwirkung kann das europäische Christentum nur träumen.
Aber dafür ist das Intellektuelle aus der Kirche verbannt, die Performances erinnern stark an die Serie »Righteous Gemstones«. Der Pastor bewirbt das Buch seines Kollegen, erzählt Witze darüber, wie er mal seine Hose fallen ließ und hetzt gegen Präsident Biden. Dieser habe den Ostersonntag zum Transgender-Tag erklärt. Sofort sind Buhrufe von Besuchern zu hören. Diabolisch sei das, bekundet der Pastor. Eine kurze Google-Suche ergibt jedoch, dass der Katholik Biden das Datum des 31. März vor drei Jahren wählte, welches 2024 zufällig auf Ostern fiel. Mit Martin Luther King hat diese Form von Baptismus leider nicht mehr viel zu tun. Aber wie heißt es so schön: Gott sprach: »Es werde Licht!« Chuck Norris antwortete: »Sag bitte!«
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.