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»Der Staat in Haiti ist kollabiert«
Der Menschenrechtler Pierre Espérance über die Krise und Lösungsansätze im Karibikstaat
Hat sich die Hoffnung auf eine Beruhigung der Lage in Haiti durch die Ankündigung des umstrittenen Premierministers Ariel Henry zurückzutreten, sobald der Übergangsrat gebildet ist, bewahrheitet?
Keinesfalls. Die Situation ist schwierig und verschlechtert sich weiter. Fast alle staatlichen Institutionen sind seit Wochen geschlossen. In der Hauptstadt Port-au-Prince und in der Hauptstadtregion, dem West Department, gibt es seit dem Beginn des Bandenaufstands am 29. Februar keine staatlichen Dienstleistungen mehr, der Staat hat sich völlig zurückgezogen, ist kollabiert. Es gibt fast keine Polizisten mehr auf den Straßen. Die Polizisten weigern sich, Dienst zu tun, weil die Polizeiführung nichts zu ihrem Schutz unternimmt, sie nicht ausreichend ausrüstet. Die haitianische Bevölkerung ist sich selbst überlassen. Es gibt keine Nahrungsmittel, kein Wasser. Die Menschen können ihre Häuser nicht verlassen, weil die Gangs alles kontrollieren. Die Gangs stiften Chaos, indem sie ihre Angriffe auf die Bevölkerung verstärken, Menschen, darunter auch Polizeibeamte, töten, vergewaltigen und entführen, die Räumlichkeiten von staatlichen Einrichtungen, Polizeistationen, Gerichten, Gewerbebetrieben und Privathäusern verwüsten und in Brand setzen. Sie drohen damit, jeden Tag weitere Menschen zu töten und halten dieses Chaos aufrecht, indem sie Tag und Nacht in fast allen Gebieten des West Departments schießen. Viele Bewohner mussten aus ihren unsicheren Behausungen fliehen und anderswo Zuflucht suchen.
Pierre Espérance ist Direktor des haitianischen Menschenrechtswerks Réseau National de Défense des Droits Humains (RNDDH) in Haitis Hauptstadt Port-au-Prince. Morddrohungen gegen Espérance und seine Mitarbeiter*innen sind Alltag, seit die Organisation detailliert recherchierte, dass der – mittlerweile ermordete – damalige haitianische Präsident Jovenel Moïse im Jahr 2018 ein Massaker an 70 Einwohner*innen im Stadtteil La Saline womöglich direkt bei den Gangs in Auftrag gegeben hatte.
Es hat lange gedauert, aber seit dem ersten Aprilwochenende steht der Übergangsrat in Haiti und damit kann Henry abtreten. Die karibische Staatengemeinschaft Caricom, der Haiti angehört, hatte ihn bei ihrem Krisengipfel am 11. März in der jamaikanischen Hauptstadt Kingston auf den Weg gebracht. Ist das eine gute Idee?
Es ist ein Schritt in die richtige Richtung, aber dem Übergangsrat werden sieben Vertreter aus von der Caricom für wichtig befundenen haitianischen Gruppierungen angehören und zwei nicht stimmberechtigte Personen aus der Zivilgesellschaft und Kirchenkreisen. Sieben Personen ist eigentlich zu viel für effektives Handeln, aber wir müssen das Beste daraus machen. Der Übergangsrat muss zeigen, dass er arbeitsfähig ist und einen Fahrplan entwickeln kann. Der ganze Prozess in der Caricom, sich auf einen Übergangsrat zu einigen, dauerte lange, zu lange, angesichts der dramatischen Situation. Zwei für den Übergangsrat vorgesehene Repräsentanten hatten bereits verzichtet, auch wegen Morddrohungen. Jetzt ist der erste Schritt wenigstens geschafft, die neun Mitglieder wurden bestimmt.
Kann der Rat die Krise abmildern?
Hoffentlich. Erst mal muss er arbeitsfähig werden. Es geht darum, die politische Krise zu lösen und vor allem darum, die Sicherheitskrise schnellstmöglich in den Griff zu bekommen. Es gibt jede Menge zu tun. Derzeit verweigern die Polizeibeamten die Weisungen aus der Polizeiführung. Die Führung des Oberkommandos der Polizei wird in Frage gestellt und beschuldigt, bewaffnete Banditen zu schützen und privilegierte Beziehungen zu ihnen zu unterhalten. Wenn die Polizei so weitermacht wie bisher und es keinen Wechsel in der Führung gibt, wird sich die Sicherheitslage in Haiti verschlechtern. Derzeit kontrollieren die Gangs 90 Prozent des West Departments. Da muss der Übergangsrat zuerst anpacken. Das wird Zeit brauchen.
13 Jahre lang, von 2004 bis 2017, bekämpfte die UN-Militärmission Minustah die Banden in Haiti. Am Anfang waren es nur zwei große Gruppen. Jetzt ist die Rede von 200 viel besser ausgestatteten Banden. Sind die 9000 Polizisten nicht hoffnungslos überfordert?
Wie viele Polizisten es in Haiti gibt, ist nicht wirklich klar. Zu wenige, das stimmt. Aber das ist nicht das einzige Problem. Diejenigen, die es gibt, machen oft ihren Job nicht richtig. Sie gehen gar nicht zur Arbeit, sie sind nicht unter Kontrolle. Die Polizei ist unzureichend ausgerüstet. Außerdem gibt es im Apparat Personen mit nachgewiesenen Verbindungen zu bewaffneten Banditen. Die Polizei ist dysfunktional, sie ist vollständig kollabiert. Deswegen muss als Erstes die Polizeiführung ausgetauscht werden.
Muss der komplette Polizeiapparat reorganisiert werden?
Korrekt. Und die Polizei muss mit angemessenen und verhältnismäßigen Ressourcen und Mitteln in Bezug auf Ausbildung und Ausrüstung ausgestattet werden, um sie in die Lage zu versetzen, schwere und grenzüberschreitende Kriminalität zu bekämpfen. Auf diese Weise kann die Polizei die Kontrolle über das Staatsgebiet zurückgewinnen, bewaffnete Banden zerschlagen und angemessene Sicherheitsbedingungen schaffen, damit die durch die Unsicherheit vertriebenen Menschen in ihre Heimat zurückkehren können. Allein 30 000 Menschen in den vergangenen Wochen. Insgesamt beziffert die Internationale Organisation für Migration die Zahl der in Haiti Vertriebenen auf 362 000 Menschen.
Teller und Rand ist der nd.Podcast zu internationaler Politik. Andreas Krämer und Rob Wessel servieren jeden Monat aktuelle politische Ereignisse aus der ganzen Welt und tischen dabei auf, was sich abseits der medialen Aufmerksamkeit abspielt. Links, kritisch, antikolonialistisch.
Ausrüstung und Ausbildung gab es doch in den vergangenen Jahren unter anderem von Kanada, wo es eine große haitianische Diaspora gibt. Hat das nichts gebracht?
Unterstützung bei Training und Ausrüstung ist in Ordnung. Aber solange es kein Programm gibt, das technische Hilfe bringt, um den Polizeiapparat zu überprüfen und neu aufzustellen, wird das nichts bringen. Als Erstes muss die Funktionsfähigkeit des Polizeiapparats überhaupt hergestellt werden. Ohne diese Voraussetzung ist alles nichts und dafür müssen die Polizeikräfte von der Basis bis zur Spitze einem Überprüfungsverfahren unterzogen werden.
Welche Verantwortung trägt die internationale Gemeinschaft, vor allem die USA, für diese chaotische Situation? 95 Prozent der Waffen in Haiti stammen laut ihrem Menschenrechtswerk RNDDH aus den USA.
Zuallererst sollte die internationale Gemeinschaft der haitianischen Bevölkerung Respekt zeigen, sie nicht übergehen, sondern bei der Krisenbewältigung einbeziehen. Das war bisher nicht der Fall. Unterstützt wurden Regierungen, die keine Legitimität bei der Bevölkerung hatten, weder die des 2021 ermordeten Jovenel Moïse noch die von seinem Nachfolger Ariel Henry. Die internationale Gemeinschaft hat von den Regierungen keine Rechenschaft verlangt, sie hat sie bedingungslos unterstützt, ohne die Interessen der Bevölkerung zu berücksichtigen. Die Menschen in Haiti gehen seit 2018 auf die Straße. Seit 2018 stehen Neuwahlen aus, 2018 hat der Oberste Rechnungshof Haitis festgestellt, dass 15 ehemalige Regierungsfunktionäre für soziale Zwecke eingeplante Gelder veruntreut haben. Passiert ist nichts und die internationale Gemeinschaft hat zugeschaut und die Regierung trotzdem weiter unterstützt. Wir brauchen die Unterstützung der internationalen Gemeinschaft. Aber sie muss mit der Zivilgesellschaft zusammenarbeiten, mit der Bevölkerung. Und sie darf auch nicht mit ihrer eigenen Agenda kommen und sie Haiti überstülpen. Das ist passiert unter Ariel Henry. Die haitianische Zivilgesellschaft hatte sich organisiert, hatte einen Vorschlag für einen Übergang eingebracht, aber die internationale Gemeinschaft unterstützte weiter Henry. Die Henry-Administration war ein Desaster für Haiti. Hätte die USA ihre Unterstützung für Henry früher zurückgezogen und nicht erst im März, wären wir nicht in einer so schlechten Lage wie jetzt. Die Zivilgesellschaft hatte das seit Jahren gefordert.
Ein Sozialpakt zur Modernisierung zwischen Staat und Zivilgesellschaft wird als ein möglicher Ausweg aus der Krise gesehen. Stimmen Sie dem zu?
Ich bin davon überzeugt, dass es in Haiti keinen Fortschritt gibt, ohne die Zivilgesellschaft einzubeziehen. Die internationale Gemeinschaft kann das Land und die Gesellschaft nicht für uns verändern, das müssen wir selber machen. Bisher erhält die haitianische Zivilgesellschaft aber nicht genügend Unterstützung und genügend Ressourcen von der internationalen Gemeinschaft. Das verhindert Fortschritte. Aber wir brauchen auch in Haiti Menschen und Politiker, die der haitianischen Bevölkerung dienen und nicht sich selbst wie bisher. Und klar, künftig muss es eine Kooperation, ein Miteinander zwischen Zivilgesellschaft und der Regierung geben und kein Gegeneinander. Üblicherweise haben die Regierungen die Zivilgesellschaft und die Menschenrechtsorganisationen als Feind betrachtet. Nur wenn beide Seiten zusammenarbeiten, kann es vorwärtsgehen.
Schnelle Wahlen helfen eher nicht, oder?
Nein. Im Moment können wir nicht über Wahlen reden. Es gibt überhaupt keinen Wahlprozess derzeit. Es gibt derzeit keine funktionierenden Institutionen, die eine Wahl organisieren könnten. Das Problem, das wir derzeit haben, ist, dass Tausende ihre Unterkünfte verlassen mussten und müssen wegen der Bandengewalt. 65 Prozent der Bevölkerung kämpft ums Überleben, um das tägliche Brot und Wasser. Zuerst muss der Zustand der Instabilität beseitigt werden, die Leute müssen in ihre Unterkünfte zurückkehren können, das normale Leben muss zurückkehren. Erst danach können wir über Wahlen nachdenken. Wahlen sollten frei und fair sein. Derzeit haben die Banden fast die totale Kontrolle. In diesem Zustand sind Wahlen ein Muster ohne Wert.
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