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Ausstellung: Brötchen und Bier für die Invasoren
Eine Ausstellung im Städtischen Museum Göttingen schlägt den Bogen von der Lokalgeschichte zur deutschen Kolonialzeit in China
Die Hafenstadt Qingdao im Osten der Volksrepublik China, 10 Millionen Einwohner einschließlich Umland, mehrere Universitäten und Austragungsort der Segelwettbewerbe bei den Olympischen Sommerspielen 2008, liegt rund 8000 Kilometer von Göttingen entfernt. Die beiden Orte sind durch keine Partnerschaft verbandelt und haben eigentlich auch sonst nichts miteinander zu tun. Jetzt aber steht Qingdao im Mittelpunkt einer Ausstellung, die den Bogen von der Göttinger Stadtgeschichte zur deutschen Kolonialherrschaft in China schlägt.
Die Jiaozhou-Bucht in China ist Ende des 19. Jahrhunderts ein bäuerliches Siedlungsgebiet, Qingdao ein kleines Fischerdorf. Am 14. November 1897 überfällt und besetzt die deutsche Marine die Bucht. Die Okkupation ist von langer Hand vorbereitet. Qingdao soll als Flottenstützpunkt dienen, aber auch das Einfallstor für den deutschen Handel in China sein. Andere Kolonialmächte wie Großbritannien und Frankreich haben schon seit den sogenannten Opiumkriegen in den 1840er und 50er Jahren ihren Einfluss in China ausgeweitet. Deutschland fürchtet, vom lukrativen chinesischen Markt ausgeschlossen zu werden.
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Am 25. April 1898 erklärt Kaiser Wilhelm II. das Areal zum deutschen Schutzgebiet. Das deutsche Kaiserreich sichert sich zusätzlich das Recht zum Eisenbahnbau sowie zum Betrieb von Bergwerken in der Provinz Shandong. Für die Sicherung der Region sorgt ein 2300 Mann starkes Marinebataillon. Die Verwaltung von Jiaozhou untersteht nun dem Reichsmarineamt. Dieses hat große Pläne – mit Qingdao als Zentrum soll eine deutsche Musterkolonie entstehen. Andere Kolonialmächte sollen sehen und staunen, was eine deutsche Kolonialverwaltung zu leisten imstande ist.
Die von den Deutschen in Tsingtau umbenannte Hauptstadt wird in Zonen für die Kolonisten und für die chinesische Bevölkerung aufgeteilt. In der Bucht lebende Bauernfamilien werden gezwungen, ihr Land an die Kolonialverwaltung zu verkaufen, oder enteignet. Dörfer werden abgerissen, Äcker aufgelöst, Gräber und Orte der Ahnenverehrung werden überbaut. Nach dem Verlust ihres Landes sind die Bauern gezwungen, sich ihren Unterhalt als Tagelöhner zu verdienen. Sie schuften als Lastenträger und Rikschafahrer, bauen für die Kolonialverwaltung Straßen und Häuser und arbeiten als Hauspersonal und Diener für die europäischen Einwohner Qingdaos.
1914, zu Beginn des Ersten Weltkriegs, fällt Jiaozhou an das Japanische Kaiserreich. Aber die deutsche Kolonialzeit hat in Qingdao bis heute Spuren hinterlassen, darunter viele Herrenhäuser und eine der größten Brauereien Asiens.
Ewald Lehmann ist 13 Jahre, als seine Familie 1887 nach Göttingen zieht. Er macht dort das Abitur, bricht eine militärische Ausbildung ab, studiert stattdessen an der örtlichen Universität Jura. 1904 geht er nach Qingdao. Er wird dort Richter, sowohl für die deutsche als auch die chinesische Bevölkerung, übt dieses Amt zehn Jahre lang aus. In seiner freien Zeit unternimmt er Reisen etwa ins Lao-Shan-Gebirge, eine Kultstätte des religiösen Daoismus – auch hier hat die deutsche Kolonialmacht mehrere Gebäude errichtet, unter anderem eine Wanderhütte für Ausflüge.
Nach dem japanischen Angriff auf Jiaozhou kommt Ewald Lehmann in Gefangenschaft, erst 1920 wird er entlassen. Nach seiner Rückkehr nach Deutschland bleibt Göttingen die Meldeadresse, doch Lehmann ist nun viel auf Reisen. Tuberkulosekrank stirbt er 1935 in Davos.
Aus China hat Ewald Lehmann seinem Vater Ernst Lehmann in Göttingen Briefe, Postkarten, Fotos und Objekte geschickt, die nun in der Ausstellung präsentiert werden – darunter Münzen, Messingschalen, Seidenstickereien. In einem frühen Brief vom Dezember 1904 berichtet Ewald über das erste von ihm verhängte Todesurteil gegen den »lange gefürchteten berühmten Räuberbandenführer Kontan«. Überhaupt verhängt der Richter drastische Strafen vor allem gegen die chinesische Bevölkerung; bereits kleine Diebstähle werden mit 50 Stockschlägen geahndet.
Auch Ernst Lehmanns Cousin Hans Wilde ist in der Kolonie zugange – was genau er dort tut, lässt die Göttinger Ausstellung offen. Er schickt neben Briefen und Karten eine Kiste mit unterschiedlichen »Raritäten« nach Göttingen. Darunter sind Gegenstände, die Wilde zufolge bei Plünderungen aus chinesischen Tempeln gestohlen wurden.
Ernst Lehmann ist ein leidenschaftlicher Anhänger der deutschen Kolonialpolitik, Mitglied der Deutschen Kolonialgesellschaft und des völkischen Alldeutschen Verbandes. 1908 wird er von Kaiser Wilhelm II. mit der Südwestafrika-Gedenkmünze ausgezeichnet. 1900 ziehen deutsche Truppen auf dem Weg in den »Boxerkrieg« nach China durch Göttingen. Ernst Lehmann organisiert für sie am Bahnhof einen Empfang und lässt sie mit Brötchen, Zigarren und 200 Liter Bier bewirten.
Später ordnet und bewahrt er die Korrespondenz und Objekte, die sein Sohn und Hans Wilde nach Göttingen schicken. »Bis heute blieben Reste der Sammlung und das Wissen um Ewald Lehmanns Tätigkeit in ›Tsingtau‹ in der Familie erhalten«, sagt Andrea Rechenberg, die bis vor wenigen Wochen das Museum leitete und die Ausstellung mit konzipiert hat. »2023 übergaben Nachfahren der Lehmanns in der vierten und fünften Generation sie dem Städtischen Museum.«
Die Dokumente und Objekte, so formuliert es Rechenberg, bilden zusammen eine einzigartige Quelle zur Göttinger Stadtgeschichte im wilhelminischen Kaiserreich und deren Verbindung zur europäischen Kolonialgeschichte. Gleichzeitig sei es mit der Ausstellung erstmals gelungen, koloniale Geschichte direkt mit eigenen Exponaten zu verbinden. »Bislang waren davon in unserer Sammlung nur indirekt Spuren sichtbar. Was verwundert, denn Deutschland gehörte von 1884 bis 1914 zu den größten Kolonialmächten der Welt.« Die deutschen Kolonien umfassten 1914 die drittgrößte Fläche nach denen der Briten und der Franzosen.
»Zwischen Göttingen und ›Tsingtau‹«, bis 9. Juni, Städtisches Museum Göttingen.
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