Kampf um den Rechtsstaat

Der Politikwissenschaftler Maximilian Pichl erklärt, warum »Law« nicht »Order« ist

  • Maximilian Pichl
  • Lesedauer: 7 Min.
Protest von Geflüchteten gegen die Polizeigewalt bei Abschiebungen.
Protest von Geflüchteten gegen die Polizeigewalt bei Abschiebungen.

»Der Rechtsstaat muss sich durchsetzen«, »der Rechtsstaat muss Zähne zeigen«, es brauche »die volle Härte des Rechtsstaats« – solche Sätze fallen zuhauf in der öffentlichen Debatte der letzten Jahre. Egal ob im Umgang mit Klimaaktivist*innen, bei Abschiebungen von Geflüchteten, im Nachgang zu Jugendkrawallen, zu Schlägereien im Schwimmbad oder der Vorstellung der neuesten Kriminalitätsstatistik: Immer wieder werden mit Bezug auf den Rechtsstaat parteiübergreifend – von CDU bis hinein in Teile der Grünen – Forderungen nach härteren Gesetzen, mehr Polizei oder einem »robusten Eingreifen« der Staatsgewalt laut. Auch die extreme und die neue Rechte beteiligen sich an der Umdeutung und Kaperung des Begriffs. Wenn die AfD sich beispielsweise als die »wahre Rechtsstaatspartei« bezeichnet, zielt sie tatsächlich darauf ab, einen neuen Ordnungsstaat mit einer von rechtlichen Fesseln unbeschränkten Exekutive zu etablieren. "Der Rechtsstaat muss sich durchsetzen«, »der Rechtsstaat muss Zähne zeigen«, es brauche »die volle Härte des Rechtsstaats« – solche Sätze fallen zuhauf in der öffentlichen Debatte der letzten Jahre. Egal ob im Umgang mit Klimaaktivist*innen, bei Abschiebungen von Geflüchteten, im Nachgang zu Jugendkrawallen, zu Schlägereien im Schwimmbad oder der Vorstellung der neuesten Kriminalitätsstatistik: Immer wieder werden mit Bezug auf den Rechtsstaat parteiübergreifend – von CDU bis hinein in Teile der Grünen – Forderungen nach härteren Gesetzen, mehr Polizei oder einem »robusten Eingreifen« der Staatsgewalt laut. Auch die extreme und die neue Rechte beteiligen sich an der Umdeutung und Kaperung des Begriffs. Wenn die AfD sich beispielsweise als die »wahre Rechtsstaatspartei« bezeichnet, zielt sie tatsächlich darauf ab, einen neuen Ordnungsstaat mit einer von rechtlichen Fesseln unbeschränkten Exekutive zu etablieren.

Diese Debatten haben konkrete Konsequenzen: Der eigentliche politische und juristische Gehalt des Rechtsstaats wird unkenntlich; der Schutz des Einzelnen gegenüber dem staatlichen Gewaltmonopol, wie er in den Grund- und Menschenrechten verankert ist, spielt kaum noch eine Rolle.

Kein naiver Bezug auf das Recht

Ursprünglich steht nicht der strafende und ordnende Staat im Zentrum rechtsstaatlichen Denkens, sondern gerade die Einhegung staatlicher Macht. In diesem Sinne ist Rechtsstaat ein genuiner Begriff der bürgerlichen Gesellschaft. Er entstand im 18./19. Jahrhundert zu einer Zeit, als sich das ökonomisch aufstrebende Bürgertum gegenüber den alten Feudalgewalten und neuen Staatsapparaten eine Sphäre der Eigentumsfreiheit schaffen wollte.

Zugleich sollte der neue mächtige, strafende Staat nicht willkürlich Freiheit entziehen können. Doch die enge Verknüpfung des Rechtsstaates mit der kapitalistischen Entwicklungsgeschichte führte dazu, dass kritische Theorien und sozialistische Akteure ihm oft mit großer Ambivalenz begegneten. Und tatsächlich hatte der freiheitssichernde Kern des Rechtsstaats stets diese Kehrseite: Viele gesellschaftliche Gruppen blieben im modernen Rechtsstaatsprojekt (zumindest zunächst) unberücksichtigt, und auch für soziale Fragen war der herrschende Rechtsstaatsdiskurs systematisch blind.

Sozialistische Theoretiker*innen wie der Politologe und Jurist Wolfgang Abendroth (1906–1985) setzten sich daher für einen sozialen Rechtsstaat ein, der die Handlungsmacht der Arbeiter*innen und Gewerkschaften stärken sowie die Möglichkeit zur Vergesellschaftung des Eigentums eröffnen sollte. Diese soziale Komponente hielt Abendroth für die Grundlage echter Demokratie.

Aber nicht nur innerhalb der Gesellschaft, sondern auch nach außen produzierte der Rechtsstaat systematisch Ausschlüsse. In den Kolonien gab es keine Rechtsstaatlichkeit, sondern nur die Allmacht der Exekutive. Eine Fortsetzung dieser Logik lässt sich heute an den EU-Außengrenzen beobachten, an denen die gewaltsame EU-Migrationspolitik gewissermaßen die Grenzen des Rechtsstaates markiert – jenseits der Landesgrenzen ist ein gigantisches Massengrab entstanden.

Seinen Ausschlüssen und Defiziten zum Trotz war der Rechtsstaat dennoch Maßstab und Ankerpunkt für Kämpfe um gleiche Rechte und Schutz vor der Polizei sowie willkürlichen Strafgesetzen. Wenn heute ein ordnungspolitisches und repressives Rechtsstaatsverständnis hegemonial geworden zu sein scheint, »Law and Order« also den freiheitssichernden Kern in öffentlichen Auseinandersetzungen zurückdrängen, dann gehen zugleich politische Freiheitssphären für soziale Kämpfe verloren. Gesellschaftlichen Bewegungen, die eine emanzipatorische Transformation anstreben, kann ein Verlust an Rechtsstaatlichkeit daher nicht egal sein.

Grundrechte gegen die Staatsgewalt

Für zu viele Menschen ist es selbstverständlich geworden, dass vom Rechtsstaat geredet wird, wo eigentlich das Gewaltmonopol gemeint ist. Dass weder in der breiten Öffentlichkeit noch in der wissenschaftlichen Fachdebatte ein avancierter Rechtsstaatsdiskurs geführt wird, macht es den Verfechter*innen von »Law and Order«-Ansätzen einfach, das Diskursfeld zu kapern.

Die erste wichtige Aufgabe besteht darin, die autoritären Strategien zur Eroberung des Rechtsstaates sichtbar zu machen. Aber auch gegenüber dem »Law and Order«-Diskurs des demokratischen Spektrums ist lautstarker Widerspruch geboten. Wenn grüne Politiker*innen im Zusammenhang mit Abschiebungen von der Durchsetzung des Rechtsstaats sprechen, ignorieren sie menschenrechtliche Schranken. Fordern Politiker*innen der Union, der Rechtsstaat müsse gegenüber der Klimabewegung »seine Zähne schärfen«, dann geht es im Kern um eine Aushebelung der Versammlungsfreiheit.

Progressive Bewegungen mögen sich hinsichtlich ihrer Themen, Aktionsformen und strategischen Ausrichtungen unterscheiden. Aber sie alle können schnell zum Ziel autoritärer Politik werden. Diese Gemeinsamkeit ließe sich in eine Stärke verwandeln: In einer Allianz für Rechtsstaatlichkeit könnten sie ein strategisches Bündnis eingehen. »Der Aufruf, für die Verfassung zu kämpfen, ist ein Appell an die an dieser Verfassung interessierten politisch-gesellschaftlichen Kräfte, ihre eigenen Interessen und deren verfassungsrechtliche Sicherungen zu erkennen und zu verteidigen«, schrieb einst der Bürgerrechtler und Politikwissenschaftler Jürgen Seifert. »Der Kampf um Verfassungspositionen ist ein Kampf um die eigenen Interessen.«

Erfolgreiche Rechtskämpfe

Wenn Verfassungspositionen, Grund- und Menschenrechte verteidigt werden, wird die liberale Demokratie mit ihren eigenen Normen und Maßstäben konfrontiert. Progressive Bewegungen können und sollten jedoch nicht dabei stehen bleiben, den liberalen Rechtsstaatsbegriff zu verteidigen. Dessen immanente Grenzen waren und sind legitimer Gegenstand der Kritik.

Der Kampf um den Rechtsstaat und um Grund- und Menschenrechte hat sich in den vergangenen Jahren ausgeweitet und professionalisiert. Mit Akteuren wie dem European Center for Constitutional and Human Rights (ECCHR) und der Gesellschaft für Freiheitsrechte (GFF) sind Organisationen entstanden, die juristische Fragen aufwerfen, um gesellschaftliche Veränderungen voranzutreiben. In vielen Fällen konnten sie für die Betroffenen von Grund- und Menschenrechtsverletzungen ein Stück Gerechtigkeit erstreiten.

Der ECCHR hat durch zahlreiche Rechtskämpfe dazu beigetragen, dass Menschenrechte in der globalen Arbeitsteilung an Bedeutung gewonnen haben und dass und mit dem Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz sogar ein Regelwerk in Kraft getreten ist, das neues juristisches Potenzial in sich trägt. Die Gesellschaft für Freiheitsrechte wiederum hat durch strategische Klagen die Bürgerrechte gegenüber Polizei- und Sicherheitsbehörden gestärkt. Zu denken ist hier beispielsweise an die erfolgreichen Verfassungsbeschwerden gegen die Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung des Bundesnachrichtendienstes oder gegen das bayerische Verfassungsschutzgesetz.

Im Unterschied zu einer reinen Verteidigungsstrategie eröffnen strategische Rechtskämpfe und -mobilisierungen, bei denen politische und soziale Bewegungen mit juristischen Akteur*innen zusammenwirken, die Möglichkeit zur Verschiebung politischer Kräfteverhältnisse. Der bedeutsame Beschluss des Bundesverfassungsgerichts zum Klimaschutzgesetz aus dem Jahr 2021, in dem der Erste Senat einen neuen, sich an Generationengerechtigkeit und Nachhaltigkeit orientierenden Freiheitsbegriff verwendete, wäre ohne Fridays for Future oder den Bund für Umwelt und Naturschutz, die beide als Kläger*innen auftraten und öffentliche Aufmerksamkeit auf das Verfahren lenkten, kaum denkbar gewesen. Soziale Bewegungen bringen auch das »Recht in Bewegung«, wie die Politikwissenschaftlerin und Juristin Carolina Vestena schreibt.

Über den liberalen Staat hinaus

Der liberale Rechtsstaatsbegriff ist das historische Ergebnis der gesellschaftlichen Kämpfe der letzten 200 Jahre in Westeuropa und in der politischen Menschheitsgeschichte relativ neu. Es wäre jedoch falsch, den liberalen Rechtsstaat als beste denkbare Staatsform zu idealisieren. Der Politikwissenschaftler Wolf-Dieter Narr hat in einem Beitrag für die Zeitschrift »Sozialistische Positionen« 2002 zutreffend gefordert, sich vom »herrschenden Rechtsstaatskonsens« mit seinem ordnungspolitischen und liberalen Fokus abzuwenden. Nur ein menschenrechtlich und sozial fundierter Rechtsstaat sei für progressive Bewegungen von Interesse, so Narr.

Der Kampf um den Rechtsstaat(sbegriff) ist im Rahmen der aktuellen Herrschaftsverhältnisse alternativlos. Doch diese Verhältnisse sind es keineswegs. Eine umfassende sozialökologische Transformation der Arbeits- und Wirtschaftsverhältnisse sowie der politischen Institutionen kann am Ende dazu führen, dass neue gesellschaftliche Verkehrsformen zwischen den Menschen entstehen. So gesehen ist der Rechtsstaat nichts Naturgegebenes, sondern ein Produkt gesellschaftlicher, das heißt menschlicher Handlungen und Kämpfe. Die Geschichte, die die Menschen mit dem Rechtsstaat heute und morgen beschreiten wollen, ist noch nicht geschrieben.

Maximilian Pichl ist Professor für Soziales Recht an der Hochschule Rhein Main. In diesen Tagen erscheint sein Buch »Law statt Order. Der Kampf um den Rechtsstaat« (Edition Suhrkamp, 260 S., br., 18 €; auch als E-Book).

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