Sozialer Wohnungsbau: Warum die Gehag immer noch Vorbild ist

1924 nahmen die Gewerkschaften den Wohnungsbau selbst in die Hand. Ein Modell für heute?

  • Günter Piening
  • Lesedauer: 5 Min.
Die von der Gehag erbaute Hufeisensiedlung in Neukölln zählt heute zum Unesco-Weltkulturerbe.
Die von der Gehag erbaute Hufeisensiedlung in Neukölln zählt heute zum Unesco-Weltkulturerbe.

Am 24. April 1924 gründeten im von Bruno Taut entworfenen Gewerkschaftshaus in der Inselstraße Vertreter des Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbundes (ADGB), der Bauhütten und verschiedener Arbeitergenossenschaften die Gemeinnützige Heimstätten, Spar- und Bau-Aktiengesellschaft, kurz Gehag, um, wie es in der Satzung heißt, »gesunde Wohnungen zu angemessenen Preisen für die minderbemittelten Volksklassen zu schaffen«. In den Folgejahren baute dieses Bündnis 10 000 Wohnungen, darunter die Hufeisensiedlung in Neukölln, die Wohnstadt Carl Legien in Pankow und die Waldsiedlung Zehlendorf, die heutzutage allesamt als Musterbeispiele für das Neue Bauen gelten und Weltkulturerbe sind. 100 Jahre später fragten wir Vertreter*innen der Nachfolgeorganisationen, Genossenschaften und andere wohnungspolitisch Engagierte: Was kann Berlin heute bei der Schaffung von preiswertem Wohnraum von der Gehag lernen? Es brauche einen gemeinnützigen Wohnungsbau, darin ist man sich einig. Aber wer wird diese bezahlbaren Wohnungen bauen? Da scheiden sich die Geister.

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  • Steffen Adam, Bauhistoriker, Organisator der Jubiläumsveranstaltung »100 Jahre Gehag«: »Die Probleme sind heute so virulent wie damals, die Jahrzehnte der Marktliberalisierung haben uns von Krise zu Krise geführt. Mit der Gehag haben die Gewerkschaften selbst Wohnungsbau betrieben. Das hat zu preiswertem und qualitativ gutem Wohnraum geführt. Ein solcher Zusammenschluss aus Gewerkschaften, Genossenschaften und anderen gesellschaftlich relevanten Gruppen, die den solidarischen Wohnungsbau selbst in die Hand nehmen, ist auch heute sinnvoll.«
  • Anis Ben-Rhouma, IG Bergbau, Chemie, Energie ( Nachfolgerin der in den Bauhütten zusammengeschlossenen sozialen Baustoffproduzenten): »Es ist nicht Aufgabe der Gewerkschaften, selbst Wohnungsbau oder Baustoffunternehmen zu betreiben. Wir setzen uns politisch dafür ein, dass Bund und Land eine soziale Wohnungspolitik gewährleisten. Wir erwarten von Unternehmen, dass sie aus eigenem Interesse bauen, denn viele Fachkräfte meiden Berlin wegen der hohen Wohnungskosten.«
  • Roland Issen, ehemaliger Vorsitzender der Deutschen Angestelltengewerkschaft (jetzt Teil von Verdi) und Aufsichtsrat der Gehag zur Zeit der Privatisierung: »Gewerkschaften brauchen das Geld der Mitglieder für Tarifkämpfe, nicht für den Wohnungsbau. Lernen können wir von der Gehag, dass Kostensenkung etwa durch modularen Wohnungsbau nötig ist. Baugenehmigungsverfahren müssen beschleunigt werden. Gewerkschaften haben aber auch die Aufgabe, Mietern deutlich zu machen, dass es ohne Mietsteigerung nicht geht.«
  • Andrej Holm, Stadtsoziologe: »Die Idee, geförderte Wohnungen von öffentlichen und gemeinnützigen Trägern durch soziale Baubetriebe zu errichten, vergrößerte nicht nur die Unabhängigkeit von der privaten Bauwirtschaft, sondern erlaubte auch effektive Bauabläufe und eine Reihe von technischen Innovationen. Das Ziel des weitgehenden Ausschlusses privater Gewinninteressen aus der Planung, Produktion und Bewirtschaftung der Neubauten ging weitgehend auf.« (aus einem Beitrag im »Mieterecho«, Nr. 411)
  • Anja Schulze, IG Bau (Nachfolgerin des Gehag-Gründungsmitglieds Deutscher Baugewerkschaftsbund): »Ich habe den Verkauf der Gehag an die Deutsche Wohnen miterlebt. Das war ein Fehler. Das Mindeste wäre, dass diese Gehag-Bestände wieder in die öffentliche Hand zurückkehren.«
  • Andreas Barz, Bündnis Junge Genossenschaften: »Damals wie heute ist genügend Kapital für den gemeinnützigen Wohnungsbau vorhanden, es fehlt eine geeignete Unternehmensform. Bund und Land müssen unternehmerisch aktiv werden, auch die Gewerkschaften. Wer langfristig Wohnungsbestände dem Markt entziehen will, muss selbst in den Wohnungsbau einsteigen.«
  • Katalin Gennburg, Fraktion Die Linke, Sprecherin für Stadtentwicklung: »Von der Gehag können wir lernen, dass Planung und auch der Bau von kommunalen Wohnungen durch eine Bauhütte zu deutlich günstigeren Preisen und in besserer Qualität herstellbar sind – ein Blick auf die Taut’schen Welterbesiedlungen belegt das! Der Senat muss endlich umsteuern und kommunale Baukapazitäten für sozial-ökologischen und innovativen Neubau bereitstellen. Mit regionalen Baustoffen und einer kommunalen Baustoffbörse können gemeinnützige Bauträger eine Stadt für die Menschen bauen. Kooperation mit Genossenschaften von der Planung, über den Bau bis hin zur Vermietung – das muss Berlin jetzt in der Tradition der Gehag umsetzen, um leistbares Wohnen gemeinsam mit den Menschen zu verwirklichen!«
  • Jan Kuhnert, bis 2021 Vorstand der Wohnraumversorgung Berlin, schrieb für den Deutschen Mieterbund das »Konzept für eine Neue Wohngemeinnützigkeit«: »Diejenigen, die Häuser bauen, und die, die drin wohnen, müssen zusammenkommen. Heute gibt es dieses Zusammenwirken nicht mehr, weil wir eine stark durchkapitalisierte Baustoffindustrie haben. Gerade im Holzbau wäre eine staatliche Bauhütte sinnvoll, zumal Berlin und Brandenburg selbst die größten Produzenten des Rohstoffes sind. So bliebe die Wertschöpfungskette unter Kontrolle. Serielles Bauen wird die Kosten senken. Die Phase der Liberalisierung muss überwunden werden, die von den Ampel-Parteien im Koalitionsvertrag festgelegte Einführung der Neuen Wohnungsgemeinnützigkeit ist überfällig.«
  • Daniel Schulz, Vorstand der »Arbeitergenossenschaft Paradies«, die neben den Genossenschaften »Freie Scholle« und »Ideal« zu den Gründungsmitgliedern der Gehag gehörte: »Die Wohnungslosigkeit ist auch heute extrem, das merken wir an den Anfragen. Das Bauen dauert zu lange. Für eine Lückenschlussbebauung brauchten wir Jahre. Die Gehag hat damals komplexe Anlagen in viel kürzerer Zeit erbaut. Heute wird geredet und geredet. Die Botschaft der Gehag sollte sein: Einfach mehr machen!«
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