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Nelkenrevolution in Portugal: Als alles anders wurde
Nach dem Sturz der Diktatur erlebte Portugal ein großes rätedemokratisches Experiment
In der Nelkenrevolution gibt es viele bedeutsame Momente, aber nie war der Volksaufstand, also jener Moment einer Revolution, in der der Staat unter Führung der Arbeiter erobert wird, so nah wie am 13. November 1975 in São Bento. In dem Lissaboner Viertel befand sich der Sitz des portugiesischen Parlaments und hier wurden Verfassunggebende Versammlung und Regierung von etwa 100 000 Menschen, die Mehrzahl von ihnen Bauarbeiter, festgesetzt. Es war eine irreale Szene: im sonnigen Lissabon, jener relativ großen Hauptstadt eines kleinen Landes und des letzten Kolonialimperiums der Geschichte. Nur mit dem Hubschrauber konnten die Gefangenen des Regierungspalastes, darunter auch der Premierminister, mit Lebensmitteln und Decken versorgt werden. Während sich draußen eine gewaltige Arbeiterdemonstration mit roten Fahnen versammelt hatte und Parolen rief.
»Rote Kommune« Lissabon
Plötzlich tauchte ein großer Zementmischer auf dem Platz auf und bahnte sich seinen Weg durch die Menge. Auf dem Fahrzeug standen zwei Männer. Einer von ihnen trug Jeans und ein offenes Hemd, hatte eine Zigarette im Mund und lächelte triumphierend. Die eine Hand am Zementmischer, die andere zur Faust geballt, rief er gemeinsam mit den Demonstrant*innen: »Wir sind das Volk!«
Premierminister Admiral Pinheiro de Azevedo forderte Sondereinheiten an, um ihn und seine Minister zu befreien. Doch die Soldaten weigerten sich. Er verlangte nach einem Helikopter, doch die Militärpolizei informierte die Bauarbeiter, sodass der Hubschrauber an einer Landung gehindert werden konnte.
Teller und Rand ist der nd.Podcast zu internationaler Politik. Andreas Krämer und Rob Wessel servieren jeden Monat aktuelle politische Ereignisse aus der ganzen Welt und tischen dabei auf, was sich abseits der medialen Aufmerksamkeit abspielt. Links, kritisch, antikolonialistisch.
Nach 36 Stunden gab der Premierminister allen Forderungen der Bauarbeiter nach. Als er sich eine Woche nach der Belagerung entschloss, die Regierungsämter niederzulegen – in den 19 Monaten wurden fünf Regierungen gestürzt –, erzählte er in seiner offenen und indiskreten Art von der Destabilisierung des Staates: »Die Situation ist, soweit ich weiß, immer noch dieselbe: erst werden Vollversammlungen (der Soldaten) abgehalten, dann werden Befehle (an die Regierung) erteilt.«
Die Regierung war so gelähmt, dass sie am 20. November versprach, sie werde nicht »politisch« handeln. Stattdessen verkündete sie: »Wir sind im Streik, alle streiken, auch die Regierung streikt.« Bis zur Lösung des Machtkampfs sollte sie nur noch Verwaltungsaufgaben übernehmen. Während die Regierung damit drohte, nach Porto ins Exil zu gehen, kündigten die Bauern aus dem Norden an, die »Rote Kommune« von Lissabon nicht mehr mit Lebensmitteln zu versorgen.
Die Aushöhlung des Staates und der politischen Macht fand ihren Ausdruck in der physischen Belagerung der Regierungsgebäude durch Zehntausende Bauarbeiter. Es war ein klassischer Machtkampf – die oben »konnten nicht mehr«, die unten »wollten nicht mehr.«
Die afrikanischen Revolutionskriege
Ihren Ursprung nimmt die Nelkenrevolution mit den antikolonialen Revolutionen, die von bewaffneten Parteien in Afrika ab 1961 in Gang gesetzt werden. Es sind Befreiungskriege einer bäuerlichen Bevölkerung, die Zwangsarbeit leisten muss. Nach dem Kongress von Berlin (1884–1885), auf dem die europäischen Mächte Afrika unter sich aufgeteilt hatten, etablierte das portugiesische Imperium ein Zwangsarbeitssystem, das während der Diktatur des Estado Novo zwischen 1926 und 1974 noch einmal ausgeweitet wurde.
Der portugiesische Estado Novo war eine Diktatur/ein faschistisches Regime, das die Kapitalkonzentration in den Händen weniger Familien garantierte und eine auf niedrigen Löhnen in der Metropole, Zwangsarbeit in den Kolonien und strenger Austeritätspolitik beruhende Weltmarktintegration verfolgte. Abgesichert wurde diese Strategie durch das Verbot von Gewerkschaften und politischen Parteien sowie der Existenz der politischen Polizei PIDE-DGS. Doch dieses Regime wurde durch eine Gruppe mittlerer Offiziere unter Leitung Otelo Saraiva de Carvalhos gestürzt, was die wichtigste soziale Revolution im Europa der Nachkriegszeit nach sich zog. Ihren Anfang nahm diese Revolution mit den antikolonialen Kämpfen in Afrika ab 1961, ihre Nachwirkungen waren bis 1980 mit dem Sturz der Diktaturen in Europa und Lateinamerika zu spüren.
Aber der Staatsstreich am 25. April 1974 selbst war noch keine Revolution. Obwohl die aufständischen Militärs, die sich in der Bewegung der Streitkräfte (MFA – Movimento das Forças Armadas) organisiert hatten, die Bevölkerung in mehreren Kommuniqués dazu aufriefen, zu Hause zu bleiben und bei Zuwiderhandlung sogar Strafen androhten, strömten Tausende auf die Straße. Es war die Bevölkerung, die dafür sorgte, dass eine internationale Revolution von den Kolonien in die Metropole, von Portugal nach Griechenland, Spanien und Lateinamerika schwappte. Es war eine demokratische Revolution, die zur sozialen wurde, dem Kriegsregime ein Ende bereiten wollte und sich in einen Kampf für soziale Rechte und die Enteignung der bürgerlichen Klasse verwandelte. Eine Revolution der Lebensweise, eine umfassende Revolution.
Fast drei Millionen Menschen werden sich zwischen dem 25. April 1974 und dem 25. November 1975 in einem beeindruckenden Beispiel partizipativer Demokratie am politischen Leben beteiligen. Ohne auf den Staat zu warten und häufig gegen den Willen der Institutionen fassten Arbeiter*innen, Stadtteilbewohner*innen und später auch Soldaten auf demokratischen Versammlungen Entscheidungen, die das Land aus dem Mittelalter in die Moderne katapultierten. Sie veränderten das Land und sich selbst, als sie das Land veränderten – oder wie es beim uruguayischen Schriftsteller Eduardo Galeano heißt: »Wir sind, was wir tun, um zu verändern, was wir sind.« Die Politik war – in einem Land, das 48 Jahre in einer Diktatur gelebt hatte – nicht länger der Beruf einiger weniger. Sätze wie »die Arbeit ist meine Politik« oder »über Politik und Religion diskutiert man nicht« verschwanden aus dem Alltag; jede Arbeit wurde zum Gegenstand politischer Diskussionen. POLITIK wurde großgeschrieben und beschäftigte sich mit der Verwaltung öffentlicher Aufgaben durch und für die vielen. DEMOKRATIE wurde großgeschrieben, weil sie aus der Perspektive des Volkes, der Betriebe und Alltagsorte gedacht wurde. Der Kolonialkrieg endete, in die Gewehrläufe wurden Nelken gesteckt. Frieden in Echtzeit.
In den Betrieben versammelten sich Arbeiter*innen zum ersten Mal in der Geschichte Portugals frei und legten Grenzen für die Nachtarbeit, Löhne oberhalb des Mindestlohns, Arbeitsrechte fest. Sie hinterfragten, wie, für wen und was produziert werden sollte. Hundertausende Menschen erhielten Zugang zu einer Miet- oder selbstgebauten Wohnung. Lehrer*innen organisierten die Selbstverwaltung der Schulen, diskutierten pädagogische Ansätze, entschieden gemeinsam über Unterrichtsinhalte. Ärzt*innen beschlossen, dass Privatkrankenhäuser in ein öffentliches Gesundheitssystem integriert werden sollten, dessen Grundlagen 1974 entwickelt wurden und das auf der Nationalisierung kirchlicher Gesundheitsfürsorge beruhte. Sie gründeten ein Programm, mit dem Tausende Ärzt*innen aufs Land geschickt wurden, um die Gesundheitsversorgung dort zu garantieren, wo es nie eine gegeben hatte.
Die liberale Demokratie als Rückschritt
Die Nelkenrevolution, die am 25. April 1974 ihren Anfang nahm und zwei Jahre andauerte – ihre Niederlage beginnt am 25. November mit einem rechten Staatsstreich, der eine liberal-repräsentative Demokratie errichtete –, war die demokratischste Phase in Portugals Geschichte. Sie stellte unter Beweis, dass eine andere, kooperative, solidarische und freiheitliche Form des Zusammenlebens möglich ist. Diese Erfahrung wird heute von den Herrschenden gefürchtet, die die Nelkenrevolution als eine Phase von Fanatismus und Chaos schildern und vergessen machen wollen, dass damals so viele Menschen wie noch nie eigenverantwortlich ein Land gestalteten, das von Kolonialkrieg, Zwangsarbeit und Hungerlöhnen gezeichnet gewesen war und sich nun in einen Ort verwandelte, an dem man gern in die Schule ging, in Krankenhäusern mit offenen Armen empfangen wurde, sich ohne Angst am Arbeitsplatz bewegen konnte.
50 Jahre später sollten wir an diese Ereignisse erinnern, um wieder eine Zukunft erkennen zu können – um der Verschlechterung der Lebensbedingungen, die die extreme Mitte zu verantworten hat, und dem Neofaschismus Widerstand leisten zu können. Wir müssen lernen, uns für das Gemeinwohl einzusetzen, und auf diese Weise unsere individuelle Freiheit und unsere Menschlichkeit erweitern. Wir müssen lernen, uns gegenseitig als Freunde wahrzunehmen.
In der Nelkenrevolution wurde echte Freiheit erobert. Frauen begannen wichtige Themen ihres Lebens ohne die Männer zu entscheiden. Das Privateigentum an Produktionsmitteln wurde begrenzt und die individuelle Freiheit von Millionen wuchs wie noch nie. Die Sicherheit der Arbeit zog eine Unsicherheit der Profite nach sich. Der portugiesische Liberalismus, der 1820 begann, hatte nicht einmal das Wahlrecht garantiert; der revolutionäre Prozess nach dem April 1974 hingegen brachte neben Wahl-, Versammlungs- und Organisationsrecht auch individuelle Freiheiten. Er brachte das Recht, zu träumen und die Demokratie am Arbeitsplatz ausüben zu können. »In dir, o Stadt, hat das Volk die Macht«, heißt es im Revolutionslied »Grândola Vila Morena«. Es ist eine Hymne an die Liebe, gegen die Macht der Waffen und Kanonen.
Raquela Varela, Jahrgang 1978, ist Historikerin. 2019 veröffentlichte sie bei Pluto Press das Buch »A People’s History of the Portuguese Revolution«.
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