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Portugal: »Die Menschen sehnen sich nach Veränderung«
Die langjährige Vorsitzende des »Linksblocks« Catarina Martins über das Erbe der Nelkenrevolution und den Aufstieg der extremen Rechten
Am 25. April jährt sich die Nelkenrevolution zum 50. Mal. Eine friedliche Revolution – es heißt, es habe nur vier Tote gegeben …
Das muss man relativieren. Portugal führte seit den frühen 60er Jahren einen blutigen Kolonialkrieg, der in den afrikanischen Kolonien Zehntausenden das Leben kostete. In Angola, Mosambik und Guinea-Bissau starben Menschen, die für ihre Freiheit kämpften, aber eben auch Tausende portugiesische Soldaten, die zur Verteidigung des Imperiums nach Afrika geschickt worden waren. Das war der Ausgangspunkt der Nelkenrevolution. Einige mittlere Offiziere putschten, weil die Armee kriegsmüde war. Danach strömten Zehntausende auf die Straße.
Catarina Martins, Jahrgang 1973, ist Theaterschauspielerin und wurde 2009 erstmals ins portugiesische Parlament gewählt. Von 2012 bis 2023 war sie Vorsitzende des Bloco des Esquerda. Das von mehreren linksradikalen Parteien getragene Bündnis erzielte bei den Wahlen vor wenigen Wochen 4,4 Prozent. Martins ist Spitzenkandidatin des »Linksblocks« bei den Wahlen für das Europa-Parlament.
Weitgehend in Vergessenheit geraten ist der Umstand, dass überall in Portugal Räte entstanden. Die Portugies*innen nahmen ihr Schicksal selbst in die Hand.
Ja, als die Menschen auf die Straße kamen, verwandelte sich der Staatsstreich in eine Revolution. Nachbarschaftsversammlungen entschieden über Schulen und Krankenhäuser, Betriebe wurden in Arbeiterselbstverwaltung übernommen, Wohnungen besetzt.
Kann man sagen, dass sich Portugal bis zum bürgerlichen Gegenputsch im November 1975 in eine Rätedemokratie verwandelte?
Das wäre wohl auch übertrieben. Denn alles wurde in diesen 19 Monaten ausgehandelt. Neben den Räten spielten auch die Militärs und die politischen Parteien eine wichtige Rolle. Vor allem die kommunistische PCP, die den Widerstand aus der Illegalität organisiert hatte, und die sozialdemokratische PS. Weil ständig um die Macht gerungen wurde, gab es eine Reihe von Gegen-Putschen. Mit der Wahl der Verfassunggebenden Versammlung verlagerte sich die Macht dann von der Gesellschaft ins Parlament. Und natürlich kämpften auch in der Armee unterschiedliche politische Strömungen miteinander.
Wieso endete die Revolution?
Die Antwort darauf ist natürlich umstritten, aber ich würde behaupten, dass die Sozialdemokratie mit den USA und ihren westlichen Verbündeten einen Pakt schloss, um Portugal für den Westen zu sichern. Aber auch die Kommunistische Partei trug zur Einhegung der Revolution bei. Die PCP setzte ganz auf parlamentarische Institutionen und bekämpfte ihrerseits die radikalen Gruppen, die die Selbstverwaltung von Betrieben und Vierteln organisierten. Bei den ersten Wahlen fuhr die KP dann ein viel schlechteres Ergebnis ein, als sie selbst erwartet hatte.
Zum 50. Jahrestag der Nelkenrevolution gibt es wenig Grund zu feiern: Bei den Wahlen vor wenigen Wochen hat die rechtsextreme CHEGA-Partei 18 Prozent der Stimmen eingefahren.
Es stimmt: Wir haben eine rechte Regierung und die extreme Rechte hat stark zugelegt. Aber ich denke, dass wir den 25. April jetzt erst recht entschlossen feiern sollten. Der Aufstieg von CHEGA hat auch damit zu tun, dass die konkreten Probleme vieler Portugies*innen nicht gelöst werden. Die PS, die seit 1974 die meiste Zeit regiert hat, ist nur dem Namen nach sozialistisch. Tatsächlich hat sie Portugal in eines der liberalsten Länder Europas verwandelt. Fast alle strategischen Bereiche der Wirtschaft sind privatisiert, nur ein kleiner Teil der Beschäftigten ist durch Tarifverträge abgesichert, die Löhne sind niedrig. Gleichzeitig gibt es einen starken strukturellen Rassismus, die portugiesische Gesellschaft ist sehr patriarchal. Das ist der Nährboden, auf dem die extreme Rechte gedeihen kann. Aber genau deswegen müssen wir die Nelkenrevolution feiern. Die extreme Rechte mag 18 Prozent bekommen haben. Aber es gibt 82 Prozent der Bevölkerung, von denen viele schockiert sind über den Aufstieg der Rechten.
Die soziale Krise war in Portugal in den 2010er Jahren spürbarer als heute. Warum ist die CHEGA gerade jetzt so stark?
Verändert hat sich in den letzten Jahren der internationale Kontext. CHEGA profitiert von Bolsonaro in Brasilien, von Trump in den USA, von Putin in Russland. Und natürlich auch von der Atomisierung der Öffentlichkeit und der Manipulierbarkeit der sozialen Medien. In den vergangenen Jahren haben sich die Lebensbedingungen für viele Portugies*innen weiter verschlechtert, die sozialdemokratische Regierung hat diesen Abstieg nur verwaltet, während sie sich selbst durch Korruption bereichert hat. Und CHEGA tritt mit dem Versprechen an, das Land grundlegend zu verändern.
Erschreckend ist, dass CHEGA in den früheren Bastionen der Kommunistischen Partei sehr gut abgeschnitten hat. Etwa im Alentejo, dem landwirtschaftlichen Süden Portugals.
Der Alentejo war immer eine vergessene Region. Zuletzt wurden die traditionellen Wirtschaftsstrukturen von industrieller Landwirtschaft verdrängt, die viel Wasser konsumiert und auf dem massenhaften Einsatz von Migrant*innen beruht. Die sozialen Probleme in der Region sind also offenkundig. CHEGA hat hier vor allem Nicht-Wähler*innen und Anhänger*innen der PS mobilisiert. Kommunistische Wähler*innen hingegen wanderten zur PS. Es gab also keine direkte Wählerwanderung von den Kommunist*innen zu CHEGA. Der PCP machen die Alterung ihrer Anhängerschaft und ihre Position zur Ukraine zu schaffen. Sie war die Linkspartei in Portugal, die der Ukraine das Recht auf Selbstverteidigung abgesprochen hat. Wir als Linksblock sind ebenfalls sehr kritisch, was die Rolle von Nato und EU in dem Konflikt angeht. Aber wir denken, dass die Ukraine ein Recht hat sich zu verteidigen.
Von der Krise der Linken sind beide Linksparteien betroffen. Die PCP ist seit 2015 von 8,3 auf 3,2 Prozent gefallen, der Bloco de Esquerda (Linksblock) von 10,2 auf 4,4 Prozent. Gemeinsam haben Bloco und PCP 2015 bis 2019 die sozialdemokratische Regierung toleriert. Mit diesem Modell haben sie die PS zu wichtigen sozialen Verbesserungen gezwungen, doch die Wähler*innen haben das nicht honoriert. War es ein Fehler, der Regierung nicht selbst beizutreten?
Wir sind 2015 nicht in die Regierung, weil wir nicht stark genug waren, um Einfluss auf die Finanzpolitik auszuüben. Diese Entscheidung war offensichtlich richtig, denn bei den Wahlen nach der Tolerierung haben wir unsere Ergebnisse behauptet, die PCP hat leicht verloren. 2019 haben wir der PS dann eine neue Regierungsvereinbarung angeboten. Aber dieser Pakt sollte nicht mehr darauf beschränkt bleiben, Kürzungen zurückzunehmen, sondern auch strukturelle und ökonomische Reformen beinhalten. Die PS hat das abgelehnt und sich wechselnde Mehrheiten gesucht. Als sie für ihren Haushalt 2021 keine Zustimmung fand, hat sie die Linke zu erpressen versucht. Wir haben an unserer Position festgehalten, die PS hat sich als Opfer präsentiert und Neuwahlen angesetzt, bei denen sie zugelegt haben. Also: Nein, die Tolerierung war kein Fehler. Die Linke hat erst bei den Wahlen danach verloren, als es kein Tolerierungsabkommen mehr gab.
Teller und Rand ist der nd.Podcast zu internationaler Politik. Andreas Krämer und Rob Wessel servieren jeden Monat aktuelle politische Ereignisse aus der ganzen Welt und tischen dabei auf, was sich abseits der medialen Aufmerksamkeit abspielt. Links, kritisch, antikolonialistisch.
Warum tritt die portugiesische Linke eigentlich getrennt an? Mit den Kommunist*innen gibt es in der Sozialpolitik doch wichtige Berührungspunkte.
Was Arbeitsrechte und Wirtschaftspolitik angeht, haben wir mit der KP große Gemeinsamkeiten. Aber es gibt eben auch wichtige Unterschiede, etwa bei der Bewertung individueller Freiheiten. Die PCP hat gegen die Rechte der LGBT-Community, gegen die Sterbehilfe und gegen die Legalisierung von Cannabis gestimmt. Und wir haben, wie erwähnt, große Differenzen in der Außenpolitik.
Bei Ihnen in Portugal gibt es das, worüber in Deutschland gestritten wird, schon länger: auf der einen Seite eine »konservative«, auf der anderen eine eher »alternative« Linke. Interessanterweise haben beide verloren.
Diese Unterschiede sind nicht das Kernproblem der Linken. Der entscheidende Punkt ist die Auseinandersetzung um die Wirtschaft. Und da ist das Problem, dass die Linke nicht genug Macht mobilisiert, um an den ökonomischen Strukturen etwas Grundlegendes zu verändern. Für diese Auseinandersetzung brauchen wir alle, die mit der sozialen Ungleichheit nicht einverstanden sind. Wenn wir Frauen oder Schwarzen sagen, ihre Anliegen seien sekundär, werden wir sicher nicht zusammen gegen Ungleichheit kämpfen können. Der Kapitalismus vertieft die Spaltung entlang der Geschlechterdifferenz und der Hautfarbe. Der Antikapitalismus muss sich gegen diese Spaltung richten – also auch patriarchale Strukturen und Rassismus bekämpfen.
Wie muss die Linke werden, wenn sie den Rechtsruck stoppen will?
Sie muss sich darauf konzentrieren, eine antikapitalistische Alternative zu formulieren. Dafür brauchen wir eine große Klarheit des Diskurses, und wir müssen künstlichen Spaltungen widersprechen. Wir müssen konkrete Kämpfe führen und auf jede Form von Sektarismus verzichten. In den vergangenen Jahren sind viele Tausend wegen der Wohnungssituation auf die Straße gegangen. Diese gesellschaftliche Mobilisierung ist entscheidend. Die Menschen sehen die Krise und wollen eine Alternative. Diese Alternative muss sozialistisch sein und eine Antwort auf die Klimakrise formulieren.
Was bleibt von der Nelkenrevolution?
Es gibt ein Lied, das jeder in Portugal kennt: »Lern schwimmen, Genosse/ das Meer wird steigen/ die Freiheit wird kommen/ die Flut, die Flut.« Die Verse wurden 1971 von Sergio Godinho geschrieben. Er wusste nicht, was passieren würde. Aber er spürte die Wut der Menschen und er sah, dass das Regime ihre Probleme nicht lösen konnte. Diese Erkenntnis bleibt für die Zukunft: Wenn ein System keine Zukunft zu bieten hat, kann die organisierte Macht der Menschen zur Zukunft werden. Ja, bei den letzten Wahlen haben die Rechten gewonnen. Aber die Menschen sehnen sich nach Veränderung. Und auch der 25. April kam gegen alle Erwartungen.
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