Die Geschichte Berlins in Bildern: Veränderung und Verlust

In einer neuen Ausstellung lässt Fotograf Michael Wesely Berlins Vergangenheit und Gegenwart miteinander verschmelzen

Wildes Treiben aus zwei Jahrhunderten: Wesely zeigt den Alexanderplatz im Wandel der Zeit.
Wildes Treiben aus zwei Jahrhunderten: Wesely zeigt den Alexanderplatz im Wandel der Zeit.

Straßenbahnen aus unterschiedlichen Jahrhunderten, Menschen, die nie zur gleichen Zeit auf der Welt waren, und hinter der 1969 erbauten Weltzeituhr die 1949 gesprengte Georgenkirche: der Alexanderplatz als zwischendimensionale Geisterwelt. Michael Wesely präsentiert ein Berlin, wie es noch nie zu sehen war – und andererseits dann eben doch.

»Im Prinzip hätte ich auch Architekt werden können, denn Raum hat mich schon immer fasziniert«, sagt Wesely bei der Eröffnung seiner Ausstellung im Museum für Fotografie. Doch ist es eben auch die Geschichte, die den Münchner Fotografen fasziniert. Wenn er einen besonderen Ort betrete, dann sei da immer diese eine Frage: »Was war denn mal hier?«

Bekannt wurde der 1963 in München geborene Wesely für seine extremen Langzeitbelichtungen, für Bilder, die Entwicklungen über Stunden bis hin zu Jahren erfassen. Doch so groß wie bei »Doubleday«, dem Projekt, das den Hauptteil der Ausstellung »Berlin 1860–2023« ausmacht, war die Zeitspanne noch nie. Außerdem geht es dieses Mal in die andere Richtung, wie der Fotograf ergänzt: »Das ist ein bisschen wie Langzeitbelichtung rückwärts.«

Zwei Jahre lang hat Wesely öffentliche und private Sammlungen nach historischen Aufnahmen Berliner Bauten durchsucht, passgenaue Bilder aus der Gegenwart erstellt und beides übereinandergelegt. »Diese Überblendungen sind mir einfach zehnmal sympathischer als das Nebeneinander«, sagt Wesely. Die Spuren der Zeit seien leichter nachzuvollziehen, zeigten sich eindrucksvoller als im üblichen Gegenüberstellen von Fotografien. Unter anderem Albrecht Meydenbauer, Friedrich Albert Schwartz und Max Missmann, bekannte Namen aus den Anfängen der Fotografie, liefern die Aufnahmen aus der Vergangenheit.

In der Gegenwart wiederum stellte sich die Suche nach den passenden Standorten als Herausforderung dar. Dankbar ist Wesely für das Geoportal des Landes Berlin, das die Senatsbauverwaltung im Netz zur Verfügung stellt. Auf dem Portal finden sich zahlreiche Karten, Pläne und andere Daten mit Raumbezug aus der Hauptstadt. Das Programm ermöglicht dabei auch, historische Karten übereinanderzulegen und miteinander zu vergleichen. »Ohne dieses Werkzeug wäre das alles sehr mühsam gewesen«, sagt Wesely.

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Wichtige Hilfe fand der Fotograf auch in den sozialen Medien. »Ich war kurz davor, meine Facebook-Mitgliedschaft niederzulegen«, berichtet Wesely. Bei den Recherchen zu »Doubleday« hätten sich dann aber einzelne Nutzer-Gruppen der Plattform als äußerst nützlich erwiesen. Sei er bei der Standortsuche selbst nicht vorangekommen, habe er sich auf die »Schwarmintelligenz« der User*innen verlassen können. »Es war eine sehr angenehme Zusammenarbeit«, sagt Wesely, der im Bildband zur Ausstellung den Facebook-Gruppen dankt. Wer sich als Gruppenmitglied outet, so der Künstler, soll kostenlosen Zutritt zur Ausstellung erhalten.

300 bis 400 Ansichten hat Wesely eigenen Angaben zufolge innerhalb der zwei Jahre produziert. In den Band und die Ausstellung geschafft haben es einige Dutzend. Die Auswahl konzentriert sich dabei bewusst auf prominente Punkte Berlins. Er habe die Ikonografie wahren müssen, damit die Leute auch wüssten, wo sie sich befinden, sagt Wesely. Den Wandel der Zeit verdeutlicht er unter anderem am Nollendorfplatz, an der Friedrichstraße, am Brandenburger Tor.

Am Bahnhof Zoo überblendet Wesely ein Bild des Fotografen (und einst bekennenden Antisemiten) Waldemar Titzenthaler von 1898 mit einer Aufnahme, die 125 Jahre später entsteht. Dort, wo das Museum für Fotografie heute Weselys Ausstellung zeigt, schimmern Tennisplätze aus der Vergangenheit durch. Auf der daneben gelegenen »West-Eisbahn« konnten Berliner*innen im Winter Schlittschuh laufen. Der Einzug haltende Fernverkehr sollte die Entwicklung des Bahnhofs Zoo bis heute massiv beeinflussen.

Der Wunsch, nach Ende des Zweiten Weltkrieges alles Alte hinter sich zu lassen, habe gerade in Berlin Spuren gezeichnet, sagt Wesely. Da gibt es einerseits Orte wie den Monbijoupark in Mitte, wo 1929 ein Zirkus zwar zum Spektakel, nicht aber zum Entspannen in der Sonne einlud. Andererseits scheinen die Beispiele für verloren gegangene Freiräume aus Sicht Weselys zu überwiegen: »Die Stadt hatte unfassbare Qualitäten, die alle durch bekannte Entwicklungen verloren gegangen sind.«

Wesely erzählt von einer Jannowitzbrücke, an der Berliner*innen einst hervorragend flanieren konnten, vom ausradierten Spittelmarkt und von einem Nollendorfplatz, auf dem sich an einer Brunnenanlage verschnaufen ließ. Eine »Einöde zum Heulen« sieht der Fotograf in der versiegelten Fläche, die sich vor dem Humboldt-Forum, dem einstigen Stadtschloss, ausbreitet. Er hofft, mit seinen Aufnahmen »einen kleinen Beitrag« zu künftigen Diskussionen leisten zu können.

Die Arbeit der zurückliegenden Jahre, so Wesely, habe seinen Blick auf die Haupstadt verändert. An Orten, wo die meisten nur mit den Schultern zuckten, kenne und sehe er nun die Geschichte. Erste Reaktionen alteingesessener Berliner*innen lösen Vorfreude aus: »Die Berliner kommen gar nicht mehr aus dem Reden heraus.« Er sei gespannt, wie die Ausstellung in den kommenden Monaten angenommen werde.

Neben »Doubleday« stellt Wesely auch die Serie »Human Conditions« aus, in der er Fotografien der Preußischen Meßbild-Anstalt seit 1885 aufgreift. Wesely hebt in neuer Bearbeitung hervor, was auf den unheimlich detailscharfen wie umfangreichen Aufnahmen drohte verloren zu gehen: Menschen, die fasziniert von der neuen Technologie in die Linse blicken, kleine Geschichten, die die historischen Bilder am Rande erzählen. Sein Werk, sagt Wesely, stehe »im Dialog mit der Fotografie an sich«. Zuhören lohnt sich.

»Michael Wesely. Berlin 1860–2023«, bis 1. September 2024, Museum für Fotografie, Jebensstraße 2 10623 Berlin, Di bis So 11 bis 19 Uhr, Do bis 20 Uhr.

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