Wer ist schuld am Geburtenknick?

Andreas Koristka legt eine empirische Analyse eines brisanten Problems vor

Geburtenrückgang: Wer ist schuld am Geburtenknick?

Die Zahl der Geburten in Deutschland ist unter 700 000 pro Jahr gefallen. Offenbar haben die großen Krisen unserer Zeit dazu beigetragen, dass den Menschen die Lust auf das Zeugen von Nachwuchs vergangen ist. Das ist verständlich. Wer möchte ein Kind in die Welt setzen, wenn die Klimakatastrophe droht, ein Atomkrieg unausweichlich scheint und in den öffentlich-rechtlichen Medien hier und da gendergerechte Sprache benutzt wird?

Aber nicht nur die großen Katastrophen sind ursächlich für die Geburtenmisere. Die Kommentare in den Zeitungen haben allerhand weitere Gründe für das träge Fortpflanzungsverhalten herausgearbeitet. Mal werden die hohen Ansprüche der Helikoptereltern verantwortlich gemacht, die weniger ambitionierten Menschen eine unkomplizierte Erziehung ihrer Kinder vor dem heimischen Fernseher verleiden (»Berliner Zeitung«). Ein anderes Mal haben die leistungsscheuen Hedonisten Schuld, die am Wochenende lieber ausschlafen, statt bei Kerzenschein und Kuschelrock mit den eigenen Lenden den Wohlstand der Bundesrepublik Deutschland zu sichern (»FAZ«).

Andreas Koristka

Andreas Koristka ist Redakteur der Satirezeitschrift »Eulenspiegel«. Für »nd.DieWoche« schreibt er alle zwei Wochen die Kolumne »Betreutes Lesen«. Alle Texte unter dasnd.de/koristka.

Die unangenehme Wahrheit, dass es in erster Linie Kinder sind, die Menschen die Elternschaft verleiden, wagt kaum jemand auszusprechen. Was nutzen zum Beispiel die vielen neuen Kitaplätze, wenn die Zweijährigen dort alles anlecken und sich mit widerlichen Krankheiten anstecken? An der Krippentür meines jüngsten Kindes hing neulich ein Schild mit der Nachricht, dass ein Fall von Krätze aufgetreten sei. Wenn man so etwas nach neun Jahren Vaterschaft und drei Kindern liest, spürt man nicht mehr die Besorgnis, dass sich das eigene Kind anstecken und die Krankheit nach Hause schleppen könnte, sondern eine merkwürdige Vorfreude: Bald kann man sein Krankheiten-Portfolio vielleicht um eine Erfahrung bereichern ...

Im Fall von Krätze wäre dies vor allem, dass man sämtliche Wäsche jeden Tag bei 60 Grad waschen muss. Noch hat sich unser Mauritz-Vincent-Severin nicht angesteckt. Oder besser gesagt: Er zeigt noch keine Symptome. Unsere Waschmaschine wäscht trotzdem jeden Tag. Ich weiß nicht mehr, wie es ist, in einer Wohnung zu leben, in der ich nicht rund um die Uhr den Schleudergang höre. Weil die Kinder ständig Dreckwäsche produzieren, hat das Ding eine Unwucht und wandert durch sämtliche Zimmer. Irgendwann wird es gegen eine Wand schlagen und unser Mietshaus zum Einsturz bringen. Das macht aber nichts, denn vorher werden mich die Wäscheberge verschütten, neben denen ich diese Kolumne schreibe.

Der Fünfjährige beißt derweil unter dem Tisch in meinen Fuß und die Neunjährige quält mich mit Bodyshaming, weil ich seit Corona zehn Kilo zugenommen habe. Ich kann alle verstehen, die auf solch ein Leben keine Lust haben. Und ich kenne niemanden, der sich von solchen Leuten wie meinen Kindern im Alter versorgen lassen möchte. Wenn es wieder mehr Kinder geben soll, dann sollten sich also zuallererst die existierenden Kinder ändern! Bessere Manieren und weniger abgeschmierte Popel unter dem Sofa, dann klappt’s auch mit der Geburtenrate.

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