»Die Palästinenser brauchen jetzt unsere Solidarität«

Der israelische Menschenrechtsaktivist Guy Shalev fordert mehr politischen Druck auf die Regierung Netanjahu

  • Interview: Raul Zelik
  • Lesedauer: 8 Min.
Die israelische Polizei geht gegen Friedensaktivist*innen vor, die ein Waffenstillstandsabkommen fordern.
Die israelische Polizei geht gegen Friedensaktivist*innen vor, die ein Waffenstillstandsabkommen fordern.

Im Oktober haben Sie in Interviews davon berichtet, dass in Ihrem Freundeskreis praktisch jeder Bekannte durch den Hamas-Angriff verloren hat. Was bedeutete das für Sie? Hat der Terroranschlag das Trauma aufgerufen, als Jüd*innen ausgelöscht werden zu können?

Der Angriff im Oktober war sehr schmerzvoll und hat viele politische Perspektiven zerstört. Zweifelsohne hat er auch das Gefühl vieler Israelis erschüttert, von der Regierung beschützt zu werden. Aber die Angst, dass jetzt die Jüd*innen ausgelöscht werden sollen, war meiner Ansicht nach nicht sehr verbreitet. Meine größte Furcht war schon damals, welche Folgen der Angriff für die israelische Gesellschaft haben würde. Wenn ich ehrlich bin, konnte ich mir nicht vorstellen, dass es so schlimm kommen würde. Ich dachte, die internationale Gemeinschaft würde Israel sehr viel früher stoppen. Wir sind extrem enttäuscht, dass der Krieg der israelischen Regierung auf keinerlei Widerstand der westlichen Staaten gestoßen ist.

Welche Folgen meinen Sie? Den Rechtsruck der israelischen Gesellschaft?

Selbst wenn es jetzt noch zu einem Waffenstillstand käme, wüsste ich nicht, wie es weitergehen soll. Die israelische Armee und die Regierung haben fürchterliche Verbrechen begangen, und die große Mehrzahl der jüdischen Israelis haben diese Vergehen unterstützt … Ich weiß nicht, wie ich weiter mit Menschen zusammenleben soll, die derartige Gewalttaten gerechtfertigt haben. Vor uns tut sich ein moralischer Abgrund auf.

Interview

Guy Shalev, 42 Jahre, ist jüdischer Israeli, Anthropologe und Direktor der 1988 gegründeten Organisation Physi­cians for Human Rights (Ärzte für Menschenrechte), in der sich jüdische und palästinensische Ärzt*innen zusammen­geschlossen haben, um für eine gleichberechtigte Gesundheits­versorgung für alle zu kämpfen.

Sie haben in einem Interview im Herbst auch berichtet, dass die Mitglieder Ihres Teams – jüdische Israelis und Palästinenser – die Ereignisse sehr unterschiedlich wahrgenommen haben. Hat sich dieser Graben weiter vertieft?

Wir, die wir mit der Realität in Gaza konfrontiert sind, sind eher wieder zusammen gerückt. In der israelischen Gesellschaft sieht das ganz anders aus. In den Medien wird kaum abgebildet, was im Gazastreifen los ist. Und auch die Berichterstattung über die internationalen Proteste ist völlig vom Narrativ der Rechten geprägt. Man erzählt den Menschen, dass die Uni-Besetzungen in den USA Ausdruck einer antisemitischen Hasswelle sind. Die israelische Regierung, die rechteste in der Geschichte des Landes, setzt das sehr gezielt ein. Israel wird als einzig sicherer Ort für die Jüd*innen verkauft.

Sie tragen in Berlin gelegentlich das Palästinensertuch, das in der deutschen Debatte sehr umstritten ist. Welche Bedeutung hat die Kufiya für Sie?

Ich sehe sie als Zeichen der Solidarität mit meinen palästinensischen Mitmenschen. Als Bekenntnis, dass ich dort stehen muss, wo ich politisch gerade gebraucht werde. Die Palästinenser*innen werden gerade so brutal angegriffen, dass jedes Zeichen des Mitgefühls wichtig ist. Deshalb berühren mich auch die Proteste an den Universitäten vieler Länder sehr. Ich will zeigen, dass ich für die palästinensische Freiheit bin, und ich will die Kufiya normalisieren: Für mich als jüdischen Israeli ist sie kein antisemitisches Zeichen und keine Bedrohung.

Ihre Organisation leistet medizinische Unterstützung für Menschen, die vom Gesundheitssystem ausgeschlossen sind: Palästinenser*innen, Migrant*innen, bedürftige Israelis ...

Ja, in unserer Satzung heißt es, dass alle Menschen – From the River to the Sea, zwischen Fluss und Meer – das gleiche Recht auf medizinische Versorgung haben müssen.

Ein Schwerpunkt sind die Gefängnisse. Was wissen Sie über die Behandlung palästinensischer Gefangener?

Die Lage in den Gefängnissen beweist, dass es eine institutionelle, strukturelle Missachtung palästinensischen Lebens in Israel gibt. Bei den Kämpfen in Gaza kann sich die Armee damit herausreden, dass Kombattant*innen und Zivilist*innen oft nur schwer zu unterscheiden sind. Aber dafür, dass in einem einzigen Internierungslager im Süden Israels seit Oktober 43 Häftlinge gestorben sind, gibt es keine Entschuldigung. Der Einsatz der Folter zeigt die Logik des israelischen Gefängnissystems. Menschen werden in Käfigen gehalten, viele Inhaftierte haben Gliedmaßen verloren, weil ihnen die Handschellen zu eng angelegt worden sind. Wir konnten in den vergangenen Monaten an Autopsien palästinensischer Häftlinge teilnehmen und verfügen deshalb über Informationen aus erster Hand. Gefangene sind gestorben, weil der israelische Staat ihnen bewusst die medizinische Versorgung verwehrt hat. In anderen Fällen war der Tod auf die Gewalt der Gefängniswärter zurückzuführen. Damit Sie einen Vergleich haben: In Guantánamo starben in über 20 Jahren neun Personen. In den israelischen Gefängnissen waren es seit Oktober mehr als 60.

Was wissen Sie über die Lage der Geiseln, die die Hamas genommen hat?

Wir haben nicht mehr Informationen als der Rest der Öffentlichkeit. Wegen unserer guten Beziehungen zum Gesundheitssystem in Gaza haben wir schnell nach der Geiselnahme Kontakt aufnehmen können und Medikamente für kranke Geiseln nach Gaza zu bringen versucht. Dass die Geiseln niemals der Grund für die israelische Offensive waren, zeigt sich für mich an genau diesem Punkt: Wir hatten eine realistische Perspektive, den Geiseln Medikamente zukommen zu lassen. Aber die Regierung hat sich geweigert, einem medizinischen Konvoi für wenige Stunde eine Sicherheitsgarantie zu geben. Es hat mir das Herz gebrochen: Die Geiseln haben für die Regierung nie eine Rolle gespielt.

Wie ist das politische Klima in Israel? Haben Sie als Regierungskritiker Angst, selbst verfolgt zu werden?

Als zivilgesellschaftliche Organisation haben wir alle Arten von Drohungen erhalten. Und wir glauben, dass die Regierung Netanjahu – wenn sie den versprochenen Sieg nicht erringen kann – gegen diejenigen vorgehen wird, die ihrer Meinung nach diesen Erfolg verhindert haben. Menschenrechtsorganisationen sind in Israel schon seit Jahren das Ziel politischer Angriffe. Das wird sich vermutlich weiter zuspitzen. In Russland und der Türkei haben wir gesehen, wie so eine Entwicklung laufen kann.

Werden Sie auch von islamistischen Gruppen bedroht? Sie bauen Brücken zwischen Jüd*innen und Palästinenser*innen. Manche arabischen Organisationen rufen dazu auf, alle Kontakte zur israelischen Gesellschaft abzubrechen.

Uns ist so etwas noch nie passiert. Wir arbeiten in Gaza, wir haben Partner dort, wir kooperieren mit dem Gesundheitssystem. Das liegt sicher auch daran, dass wir uns als politische Organisation verstehen und die Verteidigung der Menschenrechte als Mittel zur Unterstützung der palästinensischen Gesellschaft verstehen. Was viele palästinensische Strukturen ablehnen, ist die Normalisierung des Status quo – die simple Koexistenz. Aber Ansätze, die eine Solidarität mit palästinensischen Anliegen zum Ausdruck bringen, werden geschätzt.

Wie würden Sie den Rechtsruck in Israel beschreiben? Ist antiarabischer Rassismus der richtige Begriff für das, was geschieht?

Als Anthropologe würde ich behaupten, dass Suprematismus der Logik des israelischen Staates von Anfang an eingeschrieben war. Also die Vorstellung, dass jüdisches Leben wertvoller ist als palästinensisches. Seit Oktober hat sich diese Haltung radikalisiert. Viele Freund*innen, mit denen wir früher zusammen auf Demonstrationen waren, unterstützen den Angriff auf Gaza und posten Propagandabilder der Armee. Das hat uns als Linken das Herz gebrochen – zu sehen, wie Freund*innen sich von der Vorstellung einer gleichberechtigten Perspektive für jüdische Israelis und Palästinenser*innen abgewandt haben. Einige merken mittlerweile, dass sie zu weit gegangen sind. Aber sie haben die Propaganda im entscheidenden Moment mitgetragen, nämlich als der Angriff auf Gaza gesellschaftlich vorbereitet wurde. Die Gegenstimmen jüdischer Israelis wurden marginalisiert, die palästinensischen Israelis mit Gewalt zum Schweigen gebracht. Gerade erst dieser Tage wurde das Büro der Israelischen Kommunistischen Partei in Nazareth gestürmt.

Wie ist es in der palästinensischen Gesellschaft? Hamas hat nach dem Überfall, zumindest vorübergehend, auch unter progressiven Palästinenser*innen Zuspruch gewonnen. Viele sehen Hamas als einzige Kraft, die Israel die Stirn bieten kann. Ist die palästinensische Gesellschaft auf dem Weg zur fanatischen Theokratie?

Die Hamas ist zweifelsohne eine reaktionäre Bewegung. Und gewiss werden fundamentalistische Kräfte durch Gewalt und Unterdrückung stärker. Der Angriff der Hamas hat die Israelis nach rechts getrieben, und es wäre erstaunlich, wenn der israelische Krieg in der palästinensischen Gesellschaft nicht dieselbe Wirkung hätte. Das ist die Tragödie des bewaffneten Kampfs. Allerdings möchte ich auch sagen, dass alle Palästinenser*innen, die ich persönlich kenne, nichts dergleichen über die Hamas gesagt haben. 

In internationalen linken Debatten wird der Zionismus häufig als »Siedlerideologie« bezeichnet. In Deutschland hingegen verweist man oft auf die progressiven Anteile des historischen Zionismus. Sollte man ihn gegen eine platte antiimperialistische Kritik in Schutz nehmen oder erweist man der israelischen Linken damit einen Bärendienst?

Ich glaube tatsächlich, dass Siedlerkolonialismus, Apartheid und Besatzung Bestandteile des israelischen Staatsprojekts sind. Die wichtigsten Soziolog*innen, die zur Geschichte der Region geforscht haben, konstatieren diesen siedlerkolonialen Kontext, und auch die historischen Fakten sprechen eine klare Sprache: Ohne die Vertreibung von 85 Prozent der indigenen palästinensischen Bevölkerung hätte Israel nicht in dieser Form entstehen können. Und dass diesen Menschen bis heute verweigert wird, in ihr Land zurückzukehren, hat natürlich auch etwas Koloniales. Wenn man verhindern möchte, dass es noch mehr Gewalt und Schmerz gibt, sollte man diese Tatsachen anerkennen. Vielleicht kann ich mich anders herum besser verständlich machen: Dekolonisierung bedeutet nicht, noch mehr Schmerz zu produzieren und Millionen Menschen zu deportieren, die wie ich in Israel geboren sind. Das Abschlachten von Unschuldigen in Kibbuzim oder auf einem Musikfestival ist keine Dekolonisierung. Aber die jüdisch-israelische Gemeinschaft hätte durchaus ein Interesse an Dekolonisierung. Es ist mein ureigenstes Interesse, andere Menschen als Gleiche zu behandeln. Es gibt Wege, wie das geschehen könnte, und es würde für Gerechtigkeit und dann auch für Frieden sorgen. Wenn wir hingegen die Augen vor den Tatsachen verschließen, wird das die bestehenden Herrschaftsverhältnisse bekräftigen. Hätten wir die Oslo-Verträge umgesetzt und den Vertriebenen eine Möglichkeit auf Rückkehr eröffnet, wären wir heute nicht in dieser schrecklichen, aussichtslosen Situation.

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