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Lob der Gegenkultur
Olivier David über hypermoralische Zeiten und die Auswirkung auf den Kulturbetrieb
Ein Pulitzerpreisträger, dessen Veranstaltung vergangene Woche in Frankfurt abgesagt wird. Eine bildende Künstlerin, die, nachdem sie Druck durch die Leitung der Universität Volkwang bekommt, auf ihre Professur verzichtet. Eine Kulturministerin, die für einen jüdischen Filmemacher klatscht, nicht aber für seinen palästinensischen Kollegen. Man könnte denken, dieses Land sei verrückt geworden.
Man braucht nicht von allem, was die Protestkultur in diesem Land hervorbringt, Fan sein, um zu sehen, dass der Wind in Deutschland von rechts weht. War Cancel Culture ein paar ermüdende Jahre bloß eine Phrase rechter Springer-Trolle, so findet sie spätestens seit dem 7. Oktober, dem Tag, an dem die Hamas Israel angegriffen hat, Eingang in die Logiken des Kunst- und Kulturbetriebs.
Olivier David ist Autor und Journalist. 2022 erschien von ihm »Keine Aufstiegsgeschichte«, in dem er autobiografisch den Zusammenhang von Armut und psychischen Erkrankungen beschreibt. Bevor er mit 30 den Quereinstieg in den Journalismus schaffte, arbeitete er im Supermarkt und Lager, als Kellner und Schauspieler. 2024 erscheint sein Essayband »Von der namenlosen Menge« im Haymon Verlag. Für »nd« schreibt er in der 14-täglichen Kolumne »Klassentreffen« über die untere Klasse und ihre Gegner*innen. Alle Texte auf dasnd.de/klassentreffen. Zudem hostet er einen gleichnamigen Podcast über Klasse, Krise und Kultur. Alle Folgen auf dasnd.de/klasse.
Das darf niemanden verwundern, der sich kritisch mit der Welt auseinandersetzt. Werden liberale Demokratien infrage gestellt, zeigen sie ihre autoritäre Maske. Am besten sah man das im vergangenen Sommer in Frankreich, wo aufständische Jugendliche den Klassenhass der Herrschenden abbekamen. Innerhalb weniger Wochen waren Haftstrafen für Eltern im Gespräch, die ihre Aufsichtspflicht verletzt hatten, genauso wie das Abschalten sozialer Netzwerke.
Dass es dazu nicht kam, hat weniger mit den Drohungen aus dem rechten Politikbetrieb zu tun, denn damit, dass sich die Unruhen nach ein paar Wochen leergelaufen hatten. Man braucht aber gar nicht ins Nachbarland gucken, um zu sehen, dass es bei uns nicht viel besser aussieht: Auch unsere Gesellschaft hat kaum Interesse an inhaltlicher Auseinandersetzung. Lieber werden Kunstschaffende ausgeladen, als dass man ernsthaft mit ihnen ins Gespräch kommt.
Die Lösung kann nur sein, Institutionen der Gegenkultur zu stärken. Was es braucht, sind Literaturpreise, Stipendien und Förderungen von engagierter und widerständiger Kunst. Wenn bürgerliche Institutionen beim kleinsten Wind die Segel streichen, dann kann die Reaktion darauf nicht sein, seichtere Kunst zu produzieren, oder sich gar selbst das Wort zu verbieten, nur um nicht von den Logiken des Kulturbetriebs ausgeschlossen zu werden.
Kunst muss ungemütlich sein. Kritisches Denken darf sich nicht auf Universitäten verlassen, die den Geldhahn abdrehen, sobald sie kritisiert werden. All das ist in der jetzigen Situation im Rahmen des staatlich geförderten Kunst- und Kulturbetriebs nicht gegeben. Gerade für das Projekt einer egalitären Gesellschaft braucht es aber zwangsläufig Menschen, die Wege jenseits überkommener Aufstiegslogiken für den Einzelnen aufzeigen. Wege, die uns aus der zum Himmel stinkenden Ungerechtigkeit befreien.
Der Schriftsteller Behzad Karim Khani schreibt auf Instagram: »Meines Erachtens gibt es für Künstler, Autoren und Intellektuelle derzeit keine höhere Auszeichnung in Deutschland, als gecancelt zu werden«. Weiter schreibt Khani, dass gecancelte Künstler*innen und Intellektuelle diejenigen sein werden, »nach denen zukünftige Stipendien, Auszeichnungen und Preise benannt sein werden«. Khanis Vision wird fürs Erste nicht in staatlich geförderten Räumen umzusetzen sein – sehr wohl ist es aber möglich, Räume der Gegenkultur zu fördern, sodass uns unser kritisches Denken und kritische Kunst erhalten bleibt.
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