Lieferdienst Getir bringts nicht mehr

Beschäftigte stehen nach angekündigter Massenentlassung alleine da

Der türkische Lieferdienst Getir macht in Berlin die Lichter aus.
Der türkische Lieferdienst Getir macht in Berlin die Lichter aus.

Noch im März wurde spekuliert, ob der türkische Lieferdienst Getir (türkisch für »bring es«) seinen Hauptkonkurrenten Flink übernehmen könnte. Nun zieht sich der Dienstleister für Lebensmittelzustellung komplett aus Deutschland und Europa zurück. Zum 15. Mai wird der Betrieb in Berlin eingestellt. 800 der deutschlandweit etwa 1300 Angestellten sind als Kurier*innen beschäftigt, die Mehrheit davon in der Hauptstadt.

Von etwa 20 sogenannten Darkstores – Mini-Lagern mit einem eingeschränkten Supermarktangebot – wurden Berliner*innen in Innenstadtlagen »in circa zehn Minuten« beliefert. Wie bei anderen Lieferdiensten auch kommen viele der Mitarbeiter*innen in der lila-gelben Arbeitskleidung aus Südostasien, vor allem aus Indien. Ihr Verdienst lag bis zuletzt auf Mindestlohnniveau plus Trinkgeld, sofern sie als sogenannte Rider unterwegs waren.

Am Nabel des Investors

Profitabel war der Konzern nie. Ob Getir, Gorillas oder Flink, die Lieferdienste für den kleinen Supermarkteinkauf warfen nie Gewinne ab, waren vielmehr von Gunst und Spekulation der Investoren abhängig. Mittlerweile rangieren die Marktwerte der Firmen weit unter den Milliardenbeträgen, die sie in ihren Finanzierungsrunden einsammeln konnten.

Das 2015 in Istanbul gegründete Unternehmen Getir zieht sich nun auf seinen heimischen Markt in der Türkei zurück. Dort sieht es »das größte Potenzial für nachhaltiges Wachstum«, erklärte es in einer Pressemitteilung. In Europa und den USA erwirtschafte Getir lediglich sieben Prozent seiner Einnahmen. Der Konkurrent Flink, der mit der Rewe-Gruppe kooperiert, soll in Deutschland einen Marktanteil von 80 Prozent halten.

An einer Verschmelzung von Getir und Flink soll vor allem Mubadala, ein Staatsfonds der Vereinigten Emirate, interessiert gewesen sein. Mubadala hat sowohl in Getir als auch in Flink investiert. Laut einem Bericht von Business Insider folgt der Rückzug von Getir auch den Interessen von Mubadala. Demnach soll sich Getir auf den türkischen, Flink auf den europäischen Markt konzentrieren.

Worte der Wertschätzung

An die Beschäftigten gerichtet, bekundet Getir »aufrichtige Wertschätzung für das Engagement und die harte Arbeit«. Doch offenbar bleiben der Belegschaft kaum mehr als diese Worte. Während Business Insider von zum Teil mündlich zugesagten Abfindungszahlungen in Höhe zweier Monatsgehälter berichtet, enthalten die Kündigungsschreiben der »Taz« zufolge weder Hinweise auf Abfindungen noch auf einen Sozialplan. In einem Sozialplan kann der Betriebsrat die Modalitäten für die Betriebsschließung – insbesondere Abfindungsansprüche – kollektiv für alle Beschäftigten aushandeln. Weigert sich der Arbeitgeber zu einem solchen Abschluss, kann der Betriebsrat einen Sozialplan rechtlich erzwingen lassen.

Der Getir-Betriebsrat scheint keinen dieser Wege gegangen zu sein. Das deutet an, wo sich das Mitbestimmungsgremium zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmer*innen verortet. Schon während der Gründung 2022 hatten Beschäftigte darauf hingewiesen, dass Getir Maßnahmen ergreife, mit denen Arbeiter*innen von der Wahl abgehalten werden sollten, damit ein möglichst unternehmenshöriger Betriebsrat zustande komme.

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Ein Anwalt beurteilt die knappen Kündigungsfristen gegenüber der »Taz« als rechtlich fragwürdig. Jede*r Beschäftigte*r muss nun einzeln vor das Arbeitsgericht ziehen, sofern er Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Kündigung hat und Abfindungszahlungen durchsetzen will. Nur wenige Arbeiter*innen werden sich dazu durchringen.

Gorillas’ gescheitertes Geschäftsmodell

Das Ende von Getir in Berlin ist auch das Ende von Gorillas. Das Berliner Start-up entwickelte sich in nur wenigen Monaten nach seiner Gründung im Jahr 2020 zu einem Einhorn (Unicorn), einem Unternehmen mit einer Milliarde Euro Marktwert. Gorillas-Gründer Kagan Sümer hatte einmal geprahlt: »In 20 Jahren werden wir sagen, wir haben verdammt noch mal das neue Nike gebaut.« Ein Jahr später wurde Gorillas an Getir verkauft.

Gorillas war am Ende nicht nur der Umgang mit den eigenen Beschäftigten zum Verhängnis geworden. Der Widerstand von einigen von ihnen hatte das Image der Firma lädiert. Dass es dem Unternehmen nie gelang, Gewinne zu erzielen, liegt dem Vernehmen nach vor allem an dem Geschäftsmodell. Zu Beginn fuhr Gorillas pro 25 Euro Umsatz 25 Euro Verlust ein. Wenn nun Flink als letzter dieser Lieferdienste übrig bleibt, ist seine Profitabiliät und damit sein Verbleib in Berlin nicht ausgemacht. Anders als bei typischer Plattformarbeit ist eine Skalierung des Betriebs zur Erhöhung der Gewinnmargen kaum möglich. Für mehr Bestellungen braucht es mehr Personal, mehr Arbeitsmittel und weitere teure Räumlichkeiten. Mit den leerstehenden Räumlichkeiten von Gorillas werde sich Flink auseinandersetzen, sagte ein Sprecher zu »nd«. Man sei weiter auf Expansionskurs. »Bereits jetzt sehen wir uns wirtschaftlich sehr gut aufgestellt und erwarten für 2024 profitables Wachstum.«

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