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Pylos: Freispruch für die angeblichen Schlepper

Prozess um Schiffsunglück in Pylos vor der griechischen Küste mit Hunderten Toten eingestellt

  • John Malamatinas, Thessaloniki
  • Lesedauer: 4 Min.
Überlebende des Schiffsunglücks von Pylos, bei dem mehr als 600 Geflüchtete ertrunken sind, fordern mit Unterstützern bei einer Demonstration Mitte März in Athen Gerechtigkeit.
Überlebende des Schiffsunglücks von Pylos, bei dem mehr als 600 Geflüchtete ertrunken sind, fordern mit Unterstützern bei einer Demonstration Mitte März in Athen Gerechtigkeit.

Am 14. Juni 2023 sank die Adriana, ein Fischkutter, der mit über 700 Geflüchteten an Bord von Libyen aus gestartet war, vor der Küste von Pylos in Griechenland. Nur 104 Menschen überlebten, was den Untergang zu einem der tödlichsten Schiffsunglücke im Mittelmeer machte. Unmittelbar nach dem tragischen Ereignis wurden neun Ägypter von der griechischen Polizei festgenommen. Sie wurden beschuldigt, Schlepper und für das Unglück verantwortlich zu sein. Sie wurden wegen Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung, Beihilfe zur illegalen Einreise nach Griechenland und vorsätzlicher Herbeiführung des Schiffbruchs angeklagt.

Am 21. Mai startete der Prozess in der südgriechischen Stadt Kalamata. Vor dem Prozess hatten Human Rights Watch und Amnesty International bereits erklärt, dass die Tatsache, dass Beamte der Küstenwache die Befragungen durchgeführt hatten, Bedenken hinsichtlich der Unabhängigkeit und Integrität der Untersuchung aufkommen lässt. Gleich zu Beginn folgte das Gericht der Argumentation der Verteidigung und erklärte sich für nicht zuständig, da das Schiff in internationalen Gewässern gesunken sei. Griechische Gerichte wie das Berufungsgericht von Kreta und das Berufungsgericht von Rhodos hatten in anderen Fällen ähnliche Entscheidungen getroffen und dem Einspruch stattgegeben.

Das Gericht erklärte die Anklage für unzulässig und die Angeklagten für nicht schuldig. Die Urteilsverkündung im Fall der neun Überlebenden löste inner- und außerhalb des Saals Freude und Jubels aus. »Dies ist ein großer Sieg für die Menschenrechte in Griechenland«, sagte Spyros Pantazis, einer der Anwälte der Angeklagten, zu Reuters.

Schon vor Prozessbeginn hatten sich Hunderte aus Solidarität vor dem Gerichtsgebäude versammelt. Sie waren dem Aufruf der Antifaschistischen Bewegung von Kalamata, der kommunistischen Gewerkschaft PAME, der Linkspartei Syriza, der neugegründeten Partei Neue Linke sowie der antirassistischen Organisation Keerfa und anderer Organisationen und Kollektive gefolgt.

Die Solidarität schien der griechischen Regierung und Polizei zu missfallen: Als die versammelten Aktivist*innen und Gewerkschaftsmitglieder versuchten, ein Transparent zu entfalten, reagierte die Polizei mit Aggression, was dazu führte, dass zwei Personen verletzt wurden, eine trug eine Kopfplatzwunde, die zweite Prellungen davon. Einer der Verletzten wurde ins Krankenhaus gebracht, wo er mit drei Stichen genäht und anschließend wieder entlassen wurde. Die Polizei nahm drei Personen vorläufig in Gewahrsam, die aber mittlerweile wieder freigelassen wurden.

Trotz der Repressionen und der Übergriffe der Polizei auf die versammelten Menschen verlief die Mobilisierung vor dem Gericht laut der griechischen Zeitung »Efsyn« dynamisch, mit zentralen Slogans wie »Die Sicherheit jedes Europäers am Zaun vom Evros wird auf dem Grund der Ägäis versteckt« und »Es gibt keinen Frieden ohne Gerechtigkeit, der Mörderstaat trägt die Verantwortung«.

Derweilen wähnen sich die wahren Schuldigen der Katastrophe vermutlich noch in Sicherheit. Schon eine Untersuchung von Reporters United, Lighthouse Reports, »Der Spiegel«, Siraj und »El Pais« im Juli 2023 ließ Zweifel an der Rolle der Schlepper aufkommen, die die griechischen Behörden den neun Ägyptern zuschrieben. Sie enthüllte die Verbindung zwischen den wahren Drahtziehern des Schiffbruchs und dem libyschen General Khalifa Haftar, zu dem die griechische Regierung bis vor kurzem enge Beziehungen pflegte. Die Europäische Union kooperiert im Rahmen ihrer harten Anti-Einwanderungspolitik mit dem afrikanischen Land.

Die Anschuldigungen gegen die neun Männer stützen sich angeblich auf die Aussagen von neun weiteren Überlebenden, die sie als Schiffsverantwortliche identifiziert haben sollen, weil sie gewisse Aufgaben erfüllten, darunter die Verteilung von Wasser und der Versuch, die Menschenmenge zu kontrollieren. Dem widersprechen jedoch Aussagen von Überlebenden, die behaupten, dass die griechische Küstenwache den Untergang des Schiffes herbeigeführt habe, indem sie versucht habe, das Boot abzuschleppen.

Unabhängige Journalist*innen sprachen kurz nach der Katastrophe mit 17 Überlebenden und Angehörigen von Vermissten, fünf der neun Familien der Beschuldigten und einem Netz von Quellen in Libyen. Alle Angehörigen sagten, dass die angeblichen Menschenhändler ausschließlich Passagiere des Schiffes waren. »Dies belegt etwa ein Screenshot eines Whatsapp-Chats, in dem einer der Verhafteten von dem tatsächlichen Schleuser Informationen über die Kosten der Reise erhält«, schreibt die Publikation. Außerdem bestätigten fünf Überlebende, dass ihre Ankunft in Ostlibyen von Männern der Tariq-bin-Ziyad-Brigade erleichtert wurde, die unter der Kontrolle von Saddam Haftar, dem Sohn von Khalifa Haftar, steht. Rechtlich ungeklärt bleibt weiterhin die Frage nach der Verantwortung der griechischen Küstenwache.

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