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»May December« im Kino: Der schöne Schein

Der Film »May December« des US-Regisseurs Todd Haynes beruht lose auf einem wahren Fall eines Skandals in den USA

  • Gabriele Summen
  • Lesedauer: 4 Min.
Einige Szenen, in denen Gracie (Julianne Moore) und Elisabeth (Natalie Portman) gemeinsam in einem Spiegel zu sehen sind, erinnern an Ingmar Bergmans zeitloses Psychodrama »Persona«.
Einige Szenen, in denen Gracie (Julianne Moore) und Elisabeth (Natalie Portman) gemeinsam in einem Spiegel zu sehen sind, erinnern an Ingmar Bergmans zeitloses Psychodrama »Persona«.

»Es ist leichter, zum Mars vorzudringen, als zu sich selbst«, befand C.G. Jung. Genau darum geht es im Kern in dem verstörenden Melodram »May December« von Todd Haynes – um Lebenslügen und die Unfähigkeit des Menschen, sich selbst zu erkennen. Der Titel »May December« ist eine Redewendung, die auf eine Beziehung zwischen einer jüngeren und einer wesentlich älteren Person verweist. Das raffinierte Drehbuch von Skriptdebütantin Samy Burch beruht lose auf der wahren Geschichte einer US-amerikanischen Lehrerin, die mit 34 ihren 12-jährigen Schüler verführte, von ihm schwanger wurde und ihn nach ihrer Gefängnisstrafe heiratete. Eine Tat, die in den USA für Aufsehen sorgte und von den Boulevardmedien weidlich ausgeschlachtet wurde.

Julianne Moore brilliert als Gracie, eine verheiratete Frau, die mit 36 eine Affäre mit einem Siebtklässler hatte. Dafür kam sie ins Gefängnis, wo sie auch sein Kind zur Welt brachte. 20 Jahre später lebt das ungleiche Paar mit zwei weiteren Kindern scheinbar glücklich verheiratet in einer idyllischen Vorstadt in Georgia. Auf den ersten Blick eine Bilderbuchfamilie, die den amerikanischen Traum lebt – in ihrem großzügigen Haus am Wasser.

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Elisabeth Berry, eine Fernsehschauspielerin, die Gracie in einem Independent- Film verkörpern möchte, besucht die beiden. Zur Vorbereitung auf ihre Rolle hat das Paar ihr erlaubt, eine Woche mit ihnen zu verbringen. Natalie Portman besticht ebenfalls als Elizabeth, die angeblich mit ihrer Interpretation der Ereignisse das Bild der von den Boulevardmedien verunglimpften Gracie und ihres Ehemanns Joe zurechtrücken möchte.

Allein die Interaktion dieser beiden Weltklasse-Schauspielerinnen macht den Film sehenswert, aber letztlich ist es die zutiefst berührende Performance von Charles Melton (»Riverdale«) als Joe, der uns mit dem schmerzhaften Preis von Lebenslügen konfrontiert. Auf Joes Unfähigkeit, sich selbst zu erkennen und eigene Entscheidungen zu treffen, fokussiert sich das Melodram im letzten Drittel immer stärker.

Der sanftmütige Joe ist ein Kind im Körper eines erwachsenen Mannes, er hatte keine Chance, erwachsen zu werden und seine eigenen Wünsche und Bedürfnisse zu ergründen. Nur in seiner metaphorisch aussagekräftigen Beschäftigung mit vom Aussterben bedrohten Monarchfaltern, die er liebevoll in Käfigen aufzieht und nach dem Schlüpfen in die Freiheit entlässt, zeigt er ein wenig Persönlichkeit. Auf den ersten Blick scheint Joe seine Frau zu lieben. Gracie kontrolliert ihn jedoch massiv und hält ihn mit ihren Neurosen in Schach. Doch ist sie eine Soziopathin oder nur unglaublich naiv, wie sie einmal selbst von sich behauptet? Ist sie einfach eine Frau, die ihren Mann aufrichtig liebt und nicht begreift, was sie ihm und ihren Kindern aus beiden Ehen möglicherweise angetan hat? Nicht nur wegen dieser Grundspannung wirkt der Film beklemmend wie ein Psychothriller.

Auch Elisabeth ist eine zwielichtige Figur, vordergründig freundlich, nutzt sie die Gastfreundschaft der beiden aus, um sich – wie ein Parasit – Gracies Charakter einzuverleiben. Zunächst studiert sie übereifrig ihre Gesten, ihre Art zu sprechen, ihre Körperhaltung, kopiert sogar Gracies Lippenstiftfarbe. Einige Szenen, in denen die beiden gemeinsam in einem Spiegel zu sehen sind, veranschaulichen diesen Prozess großartig und erinnern an Ingmar Bergmans zeitloses Psychodrama »Persona«.

Großartig auch die Kameraarbeit von Christopher Blauvelt, der häufig vor allem für die US-Regisseurin Kelly Reichardt (»First Cow«) starke Bilder findet. Er zeigt Heim und Umgebung des Paares in einem irreal wirkenden Licht, das verstärkt noch das Gefühl des schönen Scheins – des Lügengebäudes, in dem die Familie haust. Von diesen Abgründen erfährt Elisabeth auch während ihrer Recherchen, bei denen sie Gracies Ex-Mann und ihren neurotischen Sohn aus erster Ehe befragt. Auch die übertrieben spannungsgeladene Musik von Marcelo Zervos trägt zu der unheilschwangeren Atmosphäre bei. Irrwitzig eine Szene zu Beginn des Films, in der Gracie in den Kühlschrank schaut, und die Musik so bedrohlich anschwillt, dass der Zuschauer sich im Kinosessel festkrallt – Gracie stellt dann jedoch lediglich fest, dass sie nicht mehr genug Hot Dogs haben.

Spätestens, als Elisabeth die Zoohandlung aufsucht, in der Gracie und Joe damals beim Liebesakt erwischt wurden und sie sich in einem unbeobachteten Moment selbstverliebt in die Vorstellung hineinsteigert, wie die beiden Sex miteinander hatten, begreift man, dass dieser Frau nicht zu trauen ist. Ebenso schockiert ist man, als Elisabeth den Mitschüler*innen von Gracies Tochter bei einer Fragerunde süffisant ihre Gedanken und Herangehensweise an Sexszenen mitteilt.

Todd Haynes, u.a. bekannt durch seinen experimentellen Biopic über Bob Dylan »I’m not there« und »Carol«, ist ein Meister darin, mit Genres und Emotionen zu spielen. Sein beinahe boshaftes Spiel mit Lebenslügen in »May December«, sein Fingerzeig darauf, wie skrupellos Menschen häufig einander benutzen, aber auch sein Geschick, letztlich unserem eigenen Voyeurismus den Spiegel vorzuhalten, hält bis zum Schluss in Atem.

»May December«: USA 2023. Regie: Todd Haynes, Buch: Samy Burch, Alex Mechanik. Mit: Julianne Moore, Natalie Portman, Charles Melton. 113 Min. Kinostart: 30. Mai

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