Wahlen in Mexiko: »Nein zum Narco, Nein zu Parteien«

Der Soziologe Victor Santillán erklärt, wie die Kleinstadt Cherán in Mexiko zum Symbol des Widerstands gegen die Drogenbanden werden konnte

  • Interview: Moritz Osswald
  • Lesedauer: 7 Min.

In der autonomen Gemeinde Cherán begleiteten Sie vergangenes Wochenende die Wahlen. Bald stehen in ganz Mexiko Präsidentschaftswahlen an. Hier in der Hauptstadt sind die Straßen gepflastert mit Parteienwerbung. Cherán, wo rund 16 000 Menschen leben, kommt jedoch ganz ohne Parteien aus. Wieso funktioniert das?

Das stimmt, politische Parteien stehen in der Gemeinde Cherán nicht zur Wahl. Natürlich gibt es Menschen, die mit bestimmten Parteien sympathisieren. Interessant ist, wie mit den Begriffen umgegangen wird. Für die Menschen in Cherán sind es keine Wahlen. Es geht um »Ernennungen«. Es werden auch keine Kandidaten bestimmt, sondern »Nominierungen« getätigt.

Wer oder was vertritt dann die Interessen der Bewohner*innen?

Vor 13 Jahren änderte sich alles. Die Gemeinde schien, wie so viele in Mexiko, vom organisierten Verbrechen vereinnahmt zu werden. Die Wälder wurden bereits von kriminellen Gruppen kontrolliert, die Abholzung war massiv. Es war auch bereits von Schutzgelderpressung der Geschäfte und Entführungen die Rede. Am 15. April 2011 entschied die Ortsgemeinschaft, dem ein Ende zu setzen und gründete eine lokale Organisation. Eine Struktur, die in jeder Ecke nach dem Rechten sieht und dafür sorgt, dass die kriminellen Banden nicht mehr in den Ort gelangen. Diese Strukturen nannte man damals Feuerstellen. An jeder Straßenecke entstand eine Feuerstelle (dort wird gekocht, gegessen, Wache gehalten, sich ausgetauscht, Anm. d. Red.). In Cherán gibt es vier Ortseingänge, einen pro Viertel. Dort stellte man Barrikaden auf. So konnte die Kontrolle über das eigene Territorium wiedererlangt werden. Vergangenen Sonntag wählte die Generalversammlung Cheráns jeweils mehrere Repräsentanten der insgesamt vier Viertel der Gemeinde. Diese Repräsentanten bilden dann den sogenannten Concejo Mayor, den Obersten Rat. Es existieren viele weitere Räte, etwa der Rat der Frauen, der Bildungsrat, der Rat der Viertel.

Kann ich mich einfach selbst als Repräsentant in einem Rat vorschlagen?

Interview

Victor Manuel Santillán Ortega (40) ist Soziologe an der Nationalen Autonomen Universität Mexikos (Unam). Er hat sich auf Prozesse indigene Selbstverwaltung spezialisiert und forscht intensiv über das Leben in der Kleinstadt Cherán. Dort werden alle drei Jahre Wahlen abgehalten, oder wie die Cheraner*innen sagen: »Ernennungen« und »Nominierungen«.

Die Wahlmechanik, wie ich es nenne, scheint simpel. Aber die soziale Dynamik des Wahlprozesses ist durchaus komplex. An jeder Feuerstelle diskutieren die Mitglieder untereinander. Sie können jemanden für den Obersten Rat vorschlagen. Das müssen sie aber nicht zwangsweise. Denn es gibt eine weitere Instanz, die Comisión de Enlace (Verbindungsausschuss). Die kümmert sich um Vorbereitungen und Organisation des Wahlprozesses in Cherán. Wenn es dann, wie jetzt, alle drei Jahre zu den Wahlen kommt, geht der Verbindungsausschuss von Feuerstelle zu Feuerstelle und fragt, ob Kandidaten vorgeschlagen werden. Allerdings fällt auf, dass es immer weniger Feuerstellen gibt. Vor allem im Vergleich mit 2011 und den Jahren danach, als die Strukturen geschaffen wurden.

Warum? Sind die Menschen trotz Autonomie politikmüde geworden?

Es gibt weniger Feuerstellen, generell weniger Beteiligung am politischen Geschehen. Ich arbeite gerade an einem akademischen Artikel hierzu. Auch die Wahlbeteiligung bei der »Ernennung« der Kandidaten etwa ist stark zurückgegangen. Es existieren Faktoren, die alltäglich wirken, die es in jedem politischen System gibt: Menschen beschweren sich, weil sie spüren, dass ihre Interessen nicht wahrgenommen werden. Die Straße wurde nicht asphaltiert, auf mein Problem wurde nicht eingegangen … Doch als Soziologe sehe ich vor allem einen Faktor, der entscheidend ist: die soziale Kohäsion, der Zusammenhalt. Dieser Zusammenhalt wurde 2011 aufgrund der gemeinsamen Angst vor dem organisierten Verbrechen geboren. Und er war stark. Die Menschen haben die Kriminellen vertrieben, sie haben ihr Leben für die Gemeinschaft riskiert. Die soziale Kohäsion war enorm. Bei den Feuerstellen war ständig was los.

Jetzt fehlt aber das gemeinsame Element, das sie zusammenschweißt?

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Jedes der vier Stadtviertel hat einmal die Woche Generalversammlung. Auch die Teilnahme an diesen Versammlungen hat stark nachgelassen. Bis zu einem Punkt, an dem manche Leute schon sagen: ›Sind das noch Versammlungen oder schon Nachbarschaftstreffen?‹ Da so wenige Menschen an der Versammlung teilnehmen. Es muss auch erwähnt werden, dass hauptsächlich Männer die Teilnehmer an diesen Versammlungen sind. Das ändert sich zwar langsam, ist aber ein kultureller Faktor, der nach wie vor seinen Einfluss hat.

Bei den Wahlen des Obersten Rats wurde nochmals betont, dass die kriminellen Gruppierungen zurückgedrängt werden konnten. Cherán ist ein friedlicher Ort. Das scheint unglaublich. Die Gemeinde befindet sich mitten in dem von der Gewalt geplagten Bundesstaat Michoacán, der Wiege des mexikanischen Drogenkriegs, dominiert von schwerbewaffneten und professionell organisierten Mafia-Organisationen.

Es gibt, trotz aller Politikmüdigkeit, zwei Dinge, über die Konsens besteht: Nein zum Narco, also der Organisierten Kriminalität, und Nein zu politischen Parteien. Zur Aufrechterhaltung der Sicherheit sind die Menschen weiterhin bereit.

Aber wie konnte das erreicht werden? Vom Widerstand der Bevölkerung gegen die Narcos liest man immer wieder. Meistens endet das fatal. Vor einigen Monaten griffen Einwohner*innen des Dorfs Texcapilla in der Peripherie der Hauptstadt ihre Erpresser an. Sie konnten aber die kriminelle Gruppierung nicht vertreiben – und es gab Entführungen als Racheakt.

Da ist zum einen der Stolz der Cheraner. Es gibt da diesen Aspekt von der sogenannten Re-Ethnifikation. Vor ihrem Aufstand 2011 identifizierten sich die Menschen aus Cherán nicht als Indigene, nicht einmal mit ihrem Ort. Wenn man sie fragte, sagten sie, sie kämen aus Uruapan (nächstgelegene größere Stadt der Region, Anm. d. Red.). Der Schlüssel zur Sicherheit liegt in ihrer Selbstorganisation. Zwei polizeiähnliche Strukturen machen die ronda comunitaria aus, der Gemeinschaftsrunde: Da sind zum einen die Barrikaden an den Ein- und Ausgängen der Stadt. Die werden 24/7 bewaffnet bewacht. Autos werden überprüft, Auffälliges wird umgehend gemeldet. Dann sind da noch die Waldwächter, die überprüfen, dass in den Wäldern nicht illegal abgeholzt wird. Ein Teil des Erfolgs der Cheraner liegt auch daran, dass es Menschen aus dem Ort sind, Menschen, die man kennt, auch wenn sie bewaffnet sind, kennt man sich. Es kommt niemand von außen, der sich um die Sicherheit Cheráns sorgt. Komplett frei von jeglicher Kriminalität ist Cherán allerdings auch nicht: Es gibt die üblichen Delikte, Diebstähle, Drogen werden verkauft. Aber die Narcos haben nicht mehr das sagen, und Entführungen sowie Schutzgelderpressung gehören der Vergangenheit an.

Also nicht nur Utopie. Dennoch: Eine autonome Organisationsstruktur, fernab vom zentralisierten Politikbetrieb – das dürfte den Staat geärgert haben.

Die Menschen wollten die Beziehungen zu den politischen Parteien damals ohnehin abbrechen. In ihrer Wahrnehmung schenkte ihnen niemand Aufmerksamkeit: Die illegale Abholzung der Wälder schritt voran, die Gewalt breitete sich aus. Auf Gemeindeebene regierte die PRI, auf Landesebene die PRD, und auf Bundesebene war die PAN an der Macht. Zu Beginn gefiel das Projekt den Politikern nicht. Jetzt, da die sozialdemokratische Morena-Partei an der Macht ist, zeigt sich etwas mehr Annäherung zwischen dem Gouverneur Michoacáns und dem Rat der Kommunalregierung. Die Menschen in Cherán zeigen eine höhere Affinität Morena gegenüber als anderen Parteien. Zudem hat ein Anwaltskollektiv namens Emancipaciones aus der Landeshauptstadt Morelia dafür gekämpft, dass Cherán als indigene Gemeinde mit ihren Besonderheiten anerkennt wird.

In einer Ihrer Abhandlungen über Cherán schreiben Sie, dass zwischen 2006 und 2011 rund 70 Prozent der Wälder Cheráns abgeholzt wird. Das ist immens.

Eine der größten Errungenschaften der Kommunalregierung, der Räte und Versammlungen ist die neue Pflanzung von Bäumen. Ein signifikanter Teil der Wälder konnte wieder aufgeforstet werden. Die Wälder werden streng bewacht.

Cherán war die erste, ist aber mittlerweile nicht mehr die einzige autonome Gemeinde. Gab der Aufstand der Bewohner*innen Cheráns den Startschuss für ein Modell einer alternativen Lebensweise indigener Gemeinden?

Wenn wir von Utopien sprechen, und das tun viele Medien, wenn es um Cherán geht, dann muss konstatiert werden, dass die kommunale Regierung Cheráns einiges richtiggemacht hat. Doch das Bild einer perfekten Utopie kritisiere ich. Es ist komplex, einige Dinge funktionieren gut, andere weniger. Doch ohne Cherán hätte es die mittlerweile über 20 indigenen Selbstverwaltungen im Bundesstaat Michoacán wahrscheinlich nicht gegeben. Es ist eine partielle Utopie, würde ich sagen.

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