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Kiew: Stadt ohne Strom und Männer
Beobachtungen aus dem Alltag in der ukrainischen Hauptstadt
»Guten Tag, liebe Frauen«, begrüßt der Busfahrer seine 50 Fahrgäste in Düsseldorf zu Beginn der 36-stündigen Reise nach Kiew. Dass auch noch zwei Männer unter den Fahrgästen sind, scheint ihm gar nicht bewusst zu sein. Schließlich dürfen seit über zwei Jahren nur ukrainische Frauen ins Ausland reisen, Männer nur in Ausnahmefällen.
»Hier die Fotos meiner Kinder«, sagt eine der Reisenden und hält ihrer Nachbarin ihr Smartphone hin. Sie ist auf dem Weg nach Charkiw. Ja, gibt sie zu, sie habe Angst, in ihre Heimatstadt zu fahren, die jeden Tag beschossen wird. »Aber ich kann doch nicht meinen Mann ständig alleine lassen.« Zwei Wochen will sie in Charkiw bleiben.
Zur Begrüßung eine Spende an die Armee
Am Busbahnhof von Lwiw begrüßt der Busfahrer einen Uniformierten herzlich und mit Handschlag. Man kennt sich. Wenig später bittet er seine Passagiere, wieder einzusteigen, fährt aber nicht los. Zuerst gibt er dem Uniformierten das Mikrofon. Und dieser bittet die Fahrgäste um eine Spende für die Armee. Alle machen ihre Geldbeutel auf – bis auf zwei Fahrgäste, die fluchtartig den Bus verlassen. Solange der Uniformierte spricht, wird der Bus schon nicht losfahren, schließen sie messerscharf – und entziehen sich so der freiwillig-unfreiwilligen Spende.
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»Stellen Sie sich vor, jetzt kosten die Tomaten in Kiew schon drei Euro das Kilo«, schimpft eine Arzthelferin. »Wie soll ich diese steigenden Preise bezahlen?« Vor kurzem ist sie aus einer 200 000-Einwohner-Stadt im Norden des Landes mit ihrer Mutter in die Hauptstadt gezogen. »Es wird wohl nicht mehr lange dauern, bis die Russen bei uns wieder einen neuen Angriff starten. Und das will ich nicht erleben müssen, dass die in unsere Stadt einmarschieren. Nein, mit den Russen will ich nichts zu tun haben«, meint sie.
Kiew lebt im Dauerstress
Jede Woche kommen zwischen drei und fünf junge Männer in die Stadt zurück – von der Front und in Särgen. »Wie viele auf dem Schlachtfeld geblieben oder in Gefangenschaft geraten sind, wissen wir ja gar nicht.« Junge Männer, so die 30-jährige Frau, trauten sich gar nicht mehr aus dem Haus, weil sie Angst hätten, auch für den Krieg mobilisiert zu werden. Mittlerweile seien so viele Männer mobilisiert worden, dass die Ukraine ausländische Arbeitskräfte anwerben müsse, glaubt sie.
Überhaupt, so die junge Frau, lebe sie im Dauerstress. Die Menschen auf der Straße und in den Bussen seien aggressiv, die ständigen Luftalarme und die Angst vor neuen russischen Angriffen raubten ihr den Schlaf. Sie hat eine Wohnung im siebten Stock. Lieber wäre ihr eine Wohnung im Erdgeschoss, da seien die Überlebenschancen bei einem Luftangriff größer.
Auf einmal ist der Strom weg
In meiner eigenen Wohnung ist es auf einmal völlig still. Der Kühlschrank brummt nicht mehr, das nervige Bohren des Nachbarn verstummt wie von Geisterhand gelenkt, und der PC ist auf einmal offline. Ein Blick auf die verfügbaren Netze zeigt, dass es im ganzen Haus kein WLAN mehr gibt. Alles klar, es ist wieder so weit. Der Strom ist weg. Und damit auch das Internet. Und wie lange das dauern wird, weiß niemand.
Wer jetzt Internet braucht, muss sich auf den Weg zu einem Café ein paar Straßen weiter machen. Vorausgesetzt, er hat die dafür erforderlichen zwei Euro. Bei Löhnen von 400 Euro und Renten unter 100 Euro sind zwei Euro viel Geld.
Wut auf Busfahrer
Immer wieder wird nach russischen Angriffen in Kiew der Strom abgestellt. Betroffen sind immer nur einzelne Straßenzüge, nie ganze Stadtteile. Das würde zu Unmut im betroffenen Viertel führen.
»Wissen Sie was?«, erklärt eine Frau ihrer Nachbarin auf der Straße vor ihrem Haus. Beide sind gerade aus dem Bus ausgestiegen. »Wenn der Strom abgeschaltet wird, müssen Sie den Stecker vom Kühlschrank aus der Steckdose ziehen. Denn wenn es wieder Strom gibt, dann gehen alle Geräte gleichzeitig im Haus an. Und das führt zu großen Spannungsschwankungen. Und die sind nicht gut für Ihren Kühlschrank.«
Auf dem »Radiomarkt« fühlen sich Männer sicher
Das Verhalten der Busfahrer bei einem Luftalarm können die beiden Frauen nicht fassen. Sobald Luftalarm ausgerufen ist, müssen die Passagiere aussteigen. »Wieso kommt eigentlich kein Busfahrer auf die Idee, uns bis zum nächsten Schutzraum zu fahren und uns dort aussteigen zu lassen?«, fragt sich die eine Frau. Die privaten Busse, die »Marschrutkas«, fahren dagegen auch bei Luftalarm weiter. Doch eine Fahrt in einem privaten Bus kostet 40 Cent, während die Fahrt in den städtischen Bussen für Rentner kostenlos ist.
In den Bussen, im Stadtzentrum und in den Geschäften sieht man fast nur Frauen. Die wenigen Männer haben meist eine Befreiung von der Armee in der Tasche. Eine Ausnahme sind die »Radiomärkte«. Radios gibt es hier schon lange nicht mehr, dafür Smartphone, Notebooks und Reparaturwerkstätten. Und viele Männer. Auf die Frage nach dem Warum erklärt der Sohn meines Vermieters, der auf solch einem Markt arbeitet, dass nirgendwo so viel Schwarzgeld umgesetzt werde wie auf den »Radiomärkten«. Und wer viel Geld hat, hat keine Probleme mit den Militärbehörden.
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