Abschiebungen in NRW: Ein »wachrüttelnder« Überblick

Ein Projekt aus Nordrhein-Westfalen blickt auf Strukturen und Schicksale im deutschen Abschiebesystem

Auch Kinder werden regelmäßig abgeschoben.
Auch Kinder werden regelmäßig abgeschoben.

Über Abschiebungen wird oft auf zwei Ebenen gesprochen. Entweder vom rechten Diskurs befeuert über nackte Zahlen. Das auffälligste Beispiel dafür in der jüngeren Vergangenheit war das Spiegel-Cover mit Olaf Scholz und dem Zitat: »Wir müssen endlich im großen Stil abschieben«. Oder es wird über Einzelfälle berichtet. Hier reicht die Spannbreite vom mitfühlenden Text über die nette Auszubildende, die abgeschoben wurde, bis zur Jubelmeldung im Boulevard, wenn ein mutmaßlicher »Gefährder« abgeschoben wurde. Der Raum dazwischen bleibt oft leer. Wer wird in der Masse abgeschoben? Wie werden Abschiebungen eigentlich durchgeführt? Wer entscheidet darüber? Und wie können sich Betroffene eigentlich wehren?

Das alles sind Fragen, denen Sebastian Rose und Sascha Schiessl in dem Buch »Abschiebungen in Nordrhein-Westfalen. Ausgrenzung. Entrechtung. Widerstände« nachgegangen sind. Rose ist Referent des Projekts Abschiebungsreporting NRW, das seit drei Jahren besondere Härten bei Abschiebungen in den Blick nimmt und besonders inhumane Aspekte der Abschiebungspraxis in Nordrhein-Westfalen öffentlich macht. Abschiebereporting und das Komitee für Grundrechte und Demokratie e.V fungieren auch als Herausgeber des Buches, das auf der Internetseite von Abschiebereporting auch heruntergeladen werden kann.

nd.DieWoche – unser wöchentlicher Newsletter

Mit unserem wöchentlichen Newsletter nd.DieWoche schauen Sie auf die wichtigsten Themen der Woche und lesen die Highlights unserer Samstagsausgabe bereits am Freitag. Hier das kostenlose Abo holen.

Dorothee Frings, die Mitglied des Beirats vom Abschiebereporting ist, fasst prägnant zusammen, was das Buch leistet: »Das Buch bietet einen Gesamtüberblick über den Abschiebevollzug in Nordrhein-Westfalen und rüttelt wach. Es zeigt auf, wie sehr Rechte eingeschränkt und verletzt werden.« Aufwendig erklären die Autoren das System hinter Abschiebungen. Wofür ist das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge verantwortlich? Welche Rollen spielen die lokalen Ausländerbehörden? Wann sind die fünf zentralen Ausländerbehörden zuständig, die es in NRW gibt? Das alles wird in dem Buch erklärt. Insgesamt werden rund 110 Fälle von drohenden, versuchten und vollzogenen Abschiebungen nachgezeichnet.

Sebastian Rose ist es wichtig aufzuzeigen, dass »jede einzelne Abschiebung« Menschen mit »je eigenen und individuellen Geschichten« betrifft. Während Politik und Behörden suggerierten, dass vor allem Straftäter und Gefährder abgeschoben würden, träfen Abschiebungen in der Realität »vor allem Familien mit Kindern, Menschen in Arbeit und Ausbildung, unter ihnen auch Pflegekräfte, Angehörige von Minderheiten, Menschen mit psychischen oder körperlichen Erkrankungen, Schwangere und Rentner*innen.« Auch in Deutschland geborene Menschen würden abgeschoben, kritisiert Rose. Familientrennungen seien genauso Alltag wie die Abschiebung aus stationären Einrichtungen. Abschiebehaft werde massenhaft angewendet. Für Sebastian Rose ist klar, es geht nicht um Ausnahmen und Einzelfälle, sondern um eine »seit vielen Jahrzehnten bestehende, strukturelle Praxis und das Ergebnis einer verhärteten Abschiebepolitik.«

Neben dem Blick auf die Strukturen, die für Abschiebungen verantwortlich sind, schaut das Buch auch auf einzelne Gruppen, die von Abschiebungen betroffen sind. In einem Beitrag geht es um konvertierte Christ*innen, die in Länder wie den Iran, Ägypten oder Mauretanien abgeschoben wurden. Das Problem in ihren Fällen, das Bundesamt für Flüchtlinge und Migration wollte ihnen nicht glauben, dass sie Christ*innen sind. Ein weiterer Beitrag widmet sich den Abschiebungen von Rom*nja. Die Autoren kritisieren: »Die Forderungen der von der Bundesregierung eingesetzten Unabhängigen Kommission Antiziganismus, die Abschiebungen von Rom*nja vollständig zu beenden, finden in Nordrhein-Westfalen kein Gehör, sind nicht einmal Teil der Diskussion.« Sogar Nachfahr*innen von Opfern des Nationalsozialismus werden abgeschoben. Im Buchbeitrag wird erklärt, dass Rom*nja in der Bundesrepublik »eine Minderheit fast ohne Chance auf Schutz« sind. Viele kommen aus Balkanstaaten, die pauschal als sicher eingestuft wurden. Sicher für die Minderheit sind sie leider allzu oft nicht.

Sebastian Rose und Sascha Schiessl zeigen auf über 230 Seiten, wie das Abschiebesystem funktioniert und wie es Menschen immer wieder in unwürdige und lebensgefährliche Situationen bringt. Wem es gerade an Wut über staatlichen Rassismus in Deutschland fehlt: Ein kurzer Blick in das Buch reicht und der Wut-Akku ist wieder voll aufgeladen.

Sebastian Rose/Sascha Schießl: Abschiebungen in Nordrhein-Westfalen. Ausgrenzung. Entrechtung. Widerstände, Köln 2024. Herausgegeben von Abschiebungsreporting NRW & Komitee für Grundrechte und Demokratie e.V. (PRINT-ISBN 978-3-88906-202-4; PDF-ISBN 978-3-88906-203-1)

Wir-schenken-uns-nichts
Unsere Weihnachtsaktion bringt nicht nur Lesefreude, sondern auch Wärme und Festlichkeit ins Haus. Zum dreimonatigen Probeabo gibt es ein Paar linke Socken von Socken mit Haltung und eine Flasche prickelnden Sekko Soziale – perfekt für eine entspannte Winterzeit. Ein Geschenk, das informiert, wärmt und das Aussteiger-Programm von EXIT-Deutschland unterstützt. Jetzt ein Wir-schenken-uns-nichts-Geschenk bestellen.
- Anzeige -

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.

- Anzeige -
- Anzeige -