JVA-Lehrer: »Wir schätzen unser Freisein zu wenig«

Der Pädagoge Martin Klein über seinen Wechsel vom Realschul- zum Gefängnislehrer

  • Interview: Marta Popowska
  • Lesedauer: 6 Min.
Nach vielen Jahren als Realschullehrer tauschte Martin Klein seinen Job gegen den als Lehrer an der JVA Heimsheim.
Nach vielen Jahren als Realschullehrer tauschte Martin Klein seinen Job gegen den als Lehrer an der JVA Heimsheim.

Sie waren Lehrer an einer regulären Realschule, haben diesen Job aber gegen einen an der Justizvollzugsanstalt Heimsheim getauscht. Was war dafür der Auslöser?

Es waren viele Gründe, aber der Hauptauslöser war, dass einer von meinen Abschlussschülern eine schwere Straftat begangen hat. Er saß in Stammheim und konnte seinen Abschluss nicht machen. Er hatte das Schreiben für sich entdeckt und wir haben uns seitenlange Briefe geschrieben. Er hat meinen Blickwinkel verändert. Man hat vom Gefängnis so ein Bild: Da sitzen die schweren Jungs drin und es ist gut so, dass sie da drin sind. Aber dass die da allein sind, auch mit ihren Gedanken, und sich nicht austauschen können, wurde mir erst durch ihn klar. So ist in mir die Idee gereift: Jetzt bin ich 50. Was kann ich noch anderes machen im Leben? Vielleicht gibt es ja eine andere Stelle, wo ich hinpasse.

Können Sie sich noch an Ihren ersten Arbeitstag erinnern?

Für mich war es das erste Mal, dass ich in einem modernen Gefängnis angekommen bin. Ich weiß noch, wie ich an die Mauer kam. Sie ist höher, als die Berliner Mauer war, und hat oben Stacheldraht. Ich hatte wirklich das Gefühl, ich komme von der Freiheit in einen völlig fremdbestimmten Raum, wo man als Individuum nicht mehr leben kann. Und trotzdem darf ich im Knast tatsächlich als Person so sein, wie ich bin. Das ist toll.

Inwiefern fühlt es sich drinnen anders an als an der Realschule draußen?

Ich habe dort nur zwei Lehrerkollegen. Und wir sind vom Denken her ganz eng beieinander. Für uns ist klar: Das sind nicht Gefangene, sondern Menschen. Wir schauen ihre Straftaten nicht an, bevor sie zu uns in den Unterricht kommen, sondern sagen: Sie dürfen erst mal sein, wie sie sind. Und dann versuchen wir, aus ihnen ein Team zu bilden. Das ist etwas anderes, als wenn ich mit 44 Kollegen zusammen bin. Es gibt auch Kolleginnen und Kollegen, die anders arbeiten als ich. Man hat auch größere Klassen und kann sich häufig nicht so intensiv um einzelne Schüler kümmern. Da muss man Kompromisse eingehen. Im Gefängnis kann ich mir den Arbeitstag so einteilen, dass ich beispielsweise Zeit habe, zu den Gefangenen in die Zelle zu gehen und mit ihnen zu sprechen.

Diese Nähe hat man zum regulären Realschüler wahrscheinlich nicht. Wie bewahren Sie eine Distanz zu den Gefangenen?

Ich freue mich jedes Mal, wenn ich rausgehe. Ich kann das Drinnen wirklich loslassen. Das ist dort und das bleibt dort.

Sie haben außerhalb des Gefängnisses keinen Kontakt zu Gefangenen?

Es ist ein absolutes No-Go, dass man Gefangene außerhalb des Gefängnisses noch mal wiedertrifft. Und zwar nicht, weil man das Menschliche unterbinden will, sondern weil die ehemaligen Gefangenen eventuell versuchen könnten, beispielsweise über mich Kontakt zu den noch Inhaftierten aufzunehmen. Dabei besteht die Möglichkeit, dass es zu Bestechungsversuchen kommt, die für beide Seiten eine strafbare Handlung darstellen.

Okay, also das ist tatsächlich auch ein Teil der Realität?

Interview

Martin Klein aus Leinfelden bei Stuttgart war sein Leben lang Realschullehrer. Vor vier Jahren tauschte er seinen Job gegen den als Lehrer an der JVA Heimsheim und fand dort seine Berufung.

So etwas gibt es und deswegen ist es ein ganz klares Gesetz: Wir haben keinen Kontakt zu ehemaligen Gefangenen. Das gilt auch für jene, die ich wirklich intensiv betreut habe. Das ist ein Grund, warum ich es auch dort lassen kann.

Mussten Sie sich anfangs Respekt verschaffen?

Das sind eigentlich Jungs wie alle draußen. Sie sind aber häufig in einem Umfeld sozialisiert, in dem genau nur das zählt: Respekt. Ich bin jemand, der gern Sport macht. Jetzt mache ich mit den schweren Jungs ein Antiaggressionstraining. Mit meinen 54 Jahren halte ich nicht mit, wenn die ihre 200 Liegestütze am Stück machen. Aber ich schaffe halt meine 20. So verdiene ich mir Respekt.

Ist das Teil des Unterrichts oder geht man in die Sporthalle?

Es gibt eine Sporthalle, aber ich mache das tatsächlich auch mit ihnen im Unterricht. Ich merke etwa, wenn sie müde werden. Dann sage ich, sie sollen eine Runde Liegestützen machen.

Inwiefern unterscheidet sich der Schultag in der JVA von Schule draußen sonst noch?

Es geht viel früher los. Die Gefangenen kommen morgens um 6.15 Uhr.

Wenn alle zu ihren Aufgaben gehen?

Genau. Ich hole sie in mein Zimmer. Dort dürfen sie sich dann einen Tee kochen und noch eine Zigarette rauchen. Ich muss die Gefangenen zunächst melden. Nicht dass einer auf dem Weg irgendwo verloren geht. Dann beginnt der Unterricht. Um 9 Uhr wird gefrühstückt. Danach geht es weiter mit Unterricht. Um elf gehen die Gefangenen auf ihre Zelle hoch, dort kriegen sie um 11.30 Uhr Mittagessen und um 12.10 Uhr kommen sie wieder runter zum Nachmittagsunterricht bis 15 Uhr. Anschließend besuche ich die Leute noch, ich muss sie auch wieder abmelden und ich bereite den Unterricht vor. Freitags haben die Gefangenen Hausaufgaben. Da habe ich Zeit, die Computer zu administrieren, Gefangene bei Weiterbildungsangeboten zu beraten und mit den Sozialarbeiterinnen zu sprechen.

Es ist alles also genau durchgetaktet?

Ja. Und sie werden auch bezahlt, mit 1,76 Euro für die Stunde. Davon dürfen sie drei Siebtel zum Einkaufen behalten. Deswegen ist es begehrt, zu arbeiten oder eben in die Schule zu gehen. Die Bezahlung ist die gleiche. Bruchrechnen konnten sie so recht schnell.

Wie groß ist Ihre Klasse zurzeit?

In meinem jetzigen Kurs waren es am Anfang zwölf Schüler. Jetzt sind es noch zehn. Viele Gefangene haben aufgrund ihrer Vergangenheit auch wenig bis gar keine Computerkenntnisse. Deshalb bieten wir das auch im Unterricht an.

Woran liegt es, dass auch die Jüngeren kaum Computerkenntnisse haben?

Dafür kann es viele Gründe geben. Von einer Bedrohungssituation, wenn man untertauchen muss, bis dahin, dass man als schwer Erziehbarer aus dem Schulsystem rausgeflogen ist. Die können Dinge am Smartphone. Aber einen Computer, Tastatur, ein Anwendungsprogramm sind Neuland. Und jetzt als Erwachsener merkt man das erste Mal, was man mit Bildung erreichen kann, und sieht ein Stück weit auch die Notwendigkeit, etwas zu tun, wenn man länger in Haft ist. Morgens ist Hofgang und dann sind die Gefangenen in der Zelle. Sie haben noch einen Freizeitbereich auf ihrem Stockwerk, aber die meiste Zeit, auch am Wochenende, ist Einschluss. Sie gehen daher gerne in die Schule. Da hat man Kontakt.

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Da sind wir wieder bei der Freiheit. Schätzen Sie Ihre heute vielleicht mehr als früher?

Ich habe mal einen Gefangenen, der lebenslänglich sitzt, gefragt, wie er das aushält. Er sagte, es gebe Menschen, die würden mit ihm tauschen wollen, etwa jemand, der Krebs hat. Da habe ich angefangen, darüber nachzudenken. Wir schätzen unser Freisein, dieses Entscheiden können über sich selbst, gar nicht wirklich. Und ich freue mich jeden Tag wieder über diese kleinen Freiheiten. Ich darf morgens einfach die Tür aufmachen und draußen meinen Frühsport machen. Das können die nicht. Wenn ich verschwitzt bin, dann gehe ich duschen. Die Gefangenen können nur zu einem bestimmten Zeitpunkt duschen. Sie können nicht telefonieren, wann sie wollen. Das lernt man so zu schätzen.

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