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Ein Kleid kommt selten allein
Kleider haben die komische Eigenschaft, dass sie nie als Singulär im Schrank hängen, noch dazu verbindet sich jedes mit einer Erinnerung
Olga Hohmann versteht nicht, was Arbeit ist, und versucht es täglich herauszufinden. In ihrem ortlosen Office sitzend, erkundet sie ihre Biografie und amüsiert sich über die eigenen Neurosen.
Ein Kleid kommt selten allein. Hat man erst mal eins, folgt meist ein weiteres – und dann noch eins und noch eins. Kleider machen nicht nur, wie man sagt, Leute, sie machen auch süchtig.
Ein schönes Kleid ist für die Ewigkeit, meint man – und doch hat es eine gewisse Halbwertszeit. Es ist ein Erinnerungsträger – und so erinnert es einen zuweilen daran, dass eine Zeit vorbeigegangen ist. Manchmal versucht man, es dennoch zu tragen, obwohl man spürt, dass sein Moment vorüber ist – und obwohl es scheinbar noch passt, spürt man, dass es bereits zur Vergangenheit gehört. Auch wenn die Proportionen sich nicht verändert haben, schmiegt es sich nicht mehr um den Körper wie das einst der Fall war.
Auch wenn sie nur an der Kleiderstange hängen, altern Kleider – zum Beispiel, weil Licht auf sie fällt – im immer gleich. Einige Stellen bleichen dann aus, so, als würden die Kleider wie Protagonist*innen ein Leben lang auf demselben Teil einer Bühne stehen, im selben Winkel vom Scheinwerferlicht angeleuchtet. Sie spielen dasselbe Stück ein Leben lang, en suite, Abend für Abend, Tag für Tag. Eine Deformation professionelle, wie wenn das Gesicht von Lastwagenfahrer*innen nur von einer Seite braun gebrannt ist.
Manche der Kleider altern auch deshalb besonders drastisch, weil sie nie getragen werden. So wie das Gummi von Schuhsohlen bricht, wenn es nicht bewegt wird. Was ein Kleid besonders schlecht altern lässt: Motten. Gegen die Motten kaufe ich mir nun Schlupfwespen, die sollen die Motten nämlich fressen. Aber wer oder was frisst dann die Schlupfwespen?
Das Problem mit den Motten teile ich mit vielen anderen. Eine Freundin erzählt mir, dass sie ihre Kleider nur noch in Kleidersäcken aufbewahrt, dass sie gemeinsam mit ihrer Familie durch die Wohnung geht und dabei laut in die Hände klatscht. Eine nach der anderen, klatsch, klatsch, klatsch.
Fast habe ich mich daran gewöhnt: Ich bin die Frau mit den Mottenlöchern in der Kleidung. Aber: Die Flucht nach vorne hat sich erübrigt. Die Motten haben meine Wohnung übernommen, ich traue mich kaum noch hinein.
Man kennt das Szenario, ein Kleid für einen Anlass zu suchen. Aber: Nicht nur bestimmte Anlässe verlangen eine bestimmte Garderobe – einige Kleider sind so stark, sie haben einen so außerordentlichen eigenen Willen, dass sie regelrecht diejenigen Momente erschaffen, in denen sie getragen werden wollen – und können. Da, wo ich herkomme, fühlt man sich fast immer overdressed – so geht es mir zumindest. Und so versuche ich, Gelegenheiten zu schaffen, um mich schön anzuziehen. Man feiert ein Fest, nur um ein Kleid tragen zu können – nicht andersherum.
Ich stelle mir vor: Eines Tages heirate ich vielleicht, nur des Hochzeitskleides wegen – ich heirate keinen Menschen, sondern das Kleid selbst. Und ich bin sicher nicht allein mit dieser Idee.
Man erinnert sich an bestimmte Momente im Leben wenn man einen bestimmten Geruch riecht, Backwaren zum Beispiel, wenn man ein spezifisches Licht sieht, orange oder hellgelb. Ganz besonders stark ist der Reiz der Erinnerung, wenn man ein Gericht zu sich nimmt, mit dem man einen Ort oder Menschen assoziiert. Wenn man diese Gerüche riecht, Geschmäcker schmeckt oder sich von diesem ganz bestimmten Licht blenden lässt, erinnert man sich häufig auch daran, welche Kleidung man getragen hat, in diesem wichtigen oder nebensächlichen Moment. Eine einzigartige Begebenheit oder ein vergessenes Ritual.
Aber was, wenn man sich nur an das Kleidungsstück erinnert, wenn das Kleid kein Signifikant ist für eine bestimmte bedeutungsvolle Begebenheit, sondern eben nur »es selbst«. Ein, wie es heißt, Ding an sich.
Manche Kleider, wirken nur von Weitem so, wie sie es, der Meinung der jeweiligen Designer*in nach, sollen. Man selbst nimmt das Kleid, das man trägt, nie in seiner Gesamtheit wahr – am Körper zerfällt es in Einzelteile. Die Ganzheit des Kleides ist immer imaginär.
Ich denke an die Ansagerin am Berliner Hauptbahnhof, die ich neulich (mein Zug hatte wie immer Verspätung) eine ganze Weile lang beobachtete. Sie sprach in ein kleines Mikrofon hinein und mit etwa drei Sekunden Zeitverzögerung schallte ihre Stimme durch die Bahnhofshalle. Eine ganze lange Acht-Stunden-Schicht verbrachte sie also damit, sich selbst zuzuhören. Das Phänomen der Fremdheit, mit der die eigene Stimme zu einem zurückkommt, war ihr vermutlich fremd. Manchmal denke ich, dass es mit der Erinnerung so ähnlich ist – sie kommt, verzerrt, zu einem zurück und ist einem dabei so vertraut, dass man sie häufig übersieht – oder überhört. So wie das Lieblingskleid, das einem den Körper verhüllt wie eine zweite Haut – es ist einem in seiner Unauffälligkeit besonders lieb. Auffallen tut es nur, wenn das Eis darauf tropft oder wenn man Schwierigkeiten dabei hat, es wieder auszuziehen.
Auch ein Kleid unterliegt einem gewissen Wiederholungszwang – man zieht es an und aus und wieder an, und manchmal ziehen andere es einem aus. Manchmal erinnere ich mich, ein Flashback: Meine Mutter, eine Riesin, zieht mir das Kleid über den Kopf und ruckelt es links und rechts am Körper nochmal ein bißchen hoch und runter, »eintüten« nennt sie das. Ich sträube mich und genieße es gleichzeitig und manchmal sage ich zu ihr: »Tüte mich ein!«
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