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Der Preis der Waffenruhe
El Salvadors Präsident Nayib Bukele hat vor seiner zweiten Amtszeit den Ausnahmezustand zementiert
»Es wird das erste Mal sein, dass es eine Einheitspartei in einem vollständig demokratischen System gibt. Die gesamte Opposition ist pulverisiert«, feierte Bukele mit charmant-bubenhaftem Lächeln Anfang Februar vor Tausenden Anhängern seinen Sieg und die Zerschlagung jeglicher Opposition.
Bukeles Popularität und das Wiederwahlergebnis von 84 Prozent basieren auf der gefühlt stark verbesserten Sicherheitslage. Über zwei Jahrzehnte lang fürchteten sich die Menschen vor der ausufernden Bandenkriminalität, eine zeitlang war das kleine mittelamerikanische Land das mit der weltweit höchsten Mordrate. Im März 2022 forderte Bukele von den Banden, mit dem Morden aufzuhören, sonst würde er sie alle einsperren. Seither haben El Salvadors Behörden unter den Befugnissen eines immer wieder verlängerten Ausnahmezustands rund 80 000 Menschen inhaftiert.
Diesen Ausnahmezustand verteidigte Bukeles Vizepräsident Félix Ulloa vor den Februarwahlen nicht nur, er war das vielleicht wichtigste Pfund der Regierung im Wahlkampf. Es gäbe hier keinen Polizeistaat, man garantiere die Sicherheit der Menschen, die Bürgerinnen und Bürger fühlten sich nicht bedroht durch die Militär- und Polizeipräsenz, sondern beschützt. Und: Es gebe immer noch kriminelle Strukturen, die man bekämpfen müsse. Solange werde der Ausnahmezustand verlängert.
Im letzten Jahr eröffnete Bukele sein Megagefängnis für 40 000 Gefangene. Drinnen spiegeln die Verhältnisse Bukeles Haltung zu Verbrechern wider: Gefangene tragen nur Einheitsunterhosen, werden mit gebeugtem Kopf durch die Gänge getrieben, in überfüllten Zellen gibt es oft keine Matratzen. Diese extremen Maßnahmen kommen bei vielen Salvadorianern gut an. Zu Essen gibt es, wie von Bukele versprochen, nichts, das müssen die Angehörigen organisieren.
Diese extremen Maßnahmen, zusammen mit Bukeles martialischem Ton, kommen bei vielen Menschen in El Salvador an. Bei Eduardo zum Beispiel, 51 Jahre alt und aus San Martín, einer bevölkerungsreichen Vorstadt im Osten der Hauptstadt San Salvador: Für ihn sei Bukele ein Segen. Er habe in seinem Stadtteil regelmäßig Schießereien, Morde, Raubüberfälle und Erpressungen erlebt. »Wenn ich heute zum Markt in San Martín gehe«, sagt er, »ist alles ruhig. Das macht einen riesigen Unterschied.«
Doch seit Beginn des Ausnahmezustands mehren sich auch kritische Stimmen. Celia Medrano setzt sich seit Jahrzehnten für Demokratie und Rechtsstaatlichkeit ein. Nach dem Ende des Bürgerkriegs zwischen Militärdiktatur und FMLN Guerilla Ende der 1990er Jahre hat sie am Aufbau der jungen salvadorianischen Demokratie mitgearbeitet. An die habe Bukele in den ersten vier Amtsjahren die Axt angelegt – vor allem mit dem mittlerweile permanenten Ausnahmezustand, so Medrano. Dass man die demokratischen Institutionen und die Menschenrechtsbestimmungen aushebeln müsse, um die Menschen vor Verbrechen schützen, sei eine Farce, auf die viele Regierungen auf der Welt seit Jahren zurückgreifen.
»Freiheit, Freiheit«, skandierten am 1. Mai erneut Hunderte Familienangehörige. Gegen die Verhaftungswellen regt sich in El Salvador zunehmend Protest. Am Anfang waren diese Demonstrationen klein, die Angehörigen wirkten verschüchtert. Mittlerweile regieren Wut und der Mut der Verzweiflung. Im vergangenen Jahr war die Kundgebung am Unabhängigkeitstag am 15. September mit mindestens 30 000 Menschen der größte Protestmarsch seit vielen Jahren.
Auch Juana Martínez de Pérez kämpft um ihren Sohn Elías Otoñel. Die 51-Jährige lebt in Los Llanitos, einem Armenviertel in den Außenbezirken von San Salvador. Die meisten Häuser hier sind aus Wellblech und Holzlatten gebaut. Hühner laufen über Grundstücke und Straßen, viele Familien bauen Papaya, Mais und Bohnen an. Juana sitzt mit ihrer Schwiegertochter Angélica auf einem alten Sofa unter dem Vordach mit Blick auf den Innenhof, ihrer vierjährigen Enkelin Scarlet Nayarit bindet sie zwei Zöpfe in die schwarzen, langen Haare.
Elías Otoñel fehlt, Angélicas Mann und Scarlets Vater. Ihn haben sie im Januar dieses Jahres inhaftiert: »Als sie kamen, um ihn zu holen, hatte mein Sohn gerade einen freien Tag. Sie haben ihm Handschellen angelegt und ihn einfach mitgenommen.« Elías sei ein arbeitsamer, verantwortungsbewusster Mann, der seine Tochter und seine Frau liebe. Für die Familie sei das sehr schwer, vor allem für Scarlet: »Meine Enkelin sagt jedem, der sie fragt, wo denn ihr Papa ist: ›Den haben sie abgeholt.‹«
Elías Otoñel habe nie etwas verbrochen, er habe einen Job am Fließband in einer Schraubenfabrik, bringe das Geld nach Hause, um die Pacht für das Haus zu zahlen und die Familie zu ernähren. Seit seiner Verhaftung weiß die Familie nichts von ihm, nur dass er im Gefängnis Izalco ist, über zwei Stunden vom Haus der Familie entfernt. Eine Anhörung soll es frühestens im nächsten Jahr geben. Das hat die Familie auch in große wirtschaftliche Schwierigkeiten gebracht: »Wir überweisen Geld an das Gefängnis, damit Elias im Gefängnisladen Lebensmittel kaufen kann. Dazu senden wir ihm Pakete mit Hygieneartikeln und Kleidung. Aber oft reicht das Geld nicht. Er war es doch, der das Geld verdiente. Meine Schwiegertochter und ich müssen jetzt den ganzen Tag arbeiten und sehen, wer sich um die kleine Scarlet kümmert.«
Juana und ihre Schwiegertochter nehmen regelmäßig an den Demonstrationen gegen diese Willkür des Staates teil. Gegen Verhaftungen ohne jegliche Beweise für angebliche Verbrechen und ohne dass Angehörige Auskünfte über den Verbleib und den Gesundheitszustand ihrer Kinder erhalten. Nayib Bukele kontert die Proteste von Angehörigen wie Juana, wie üblich, polemisch: »Da gibt es Gerüchte, wir würden uns an redlichen Menschen rächen. Natürlich wird es immer eine Mutter geben, die behauptet, ihr Kind sei unschuldig. Aber vielleicht hat dieser Sohn zehn Menschen getötet. Aber sie glaubt oder will einfach glauben, ihr Sohn sei unschuldig.«
Dass Menschenrechtsorganisationen von 30 bis 50 Prozent Unschuldigen in den Gefängnissen sprechen, hält Bukele für Propaganda derjenigen, die vor seiner Präsidentschaft gut von Korruption und Verbrechen gelebt haben – und meint damit Anhängern der »pulverisierten« Opposition. Bukele twittert, es seien doch wohl eher zehn Prozent. Das wären aber immer noch fast 10 000 junge Menschen, die als Unschuldige teils seit Monaten in überfüllten Gefängnissen hocken. Sie sind es, die den Preis für das wohlige Sicherheitsgefühl der salvadorianischen Bevölkerung zahlen – und über deren Schicksal Bukele zu seinem erneuten Wahlsieg marschiert ist.
Wie Elías Otoñel sind es vor allem Salvadorianer aus den Armenvierteln des Landes, die oft selbst unter der Bandenkriminalität gelitten haben, die nun unschuldig im Gefängnis landen. Celia Medrano, die Menschenrechtsexpertin, sieht hier eine perfide Strategie Bukeles. Die Bevölkerung fühle sich heute sicherer, da die Präsenz der Banden nicht mehr so sichtbar sei wie in früheren Jahren. Aber die Wahrheit sei, dass diese gegenwärtige Sicherheit durch Pakte mit kriminellen Strukturen erlangt wurde und dass die Banden längst in staatlichen Strukturen präsent sind und praktisch mitregieren. Mit dem dauerhaften Ausnahmezustand, mit diesem permanenten Aussetzen von Menschenrechtsgarantien würden in Wahrheit die Armut und Regimegegner kriminalisiert.
Anfang Mai gab Ariela González, Anwältin von Silverio Morales, eine Beschwerde bei der salvadorianischen Ombudsstelle für Menschenrechte ab. Morales, eine indigene Führungspersönlichkeit, setzt sich seit Jahren für den Wasserschutz und die Rechte indigener Völker ein. Sein Sohn Levi wurde letzten November auf der Familienfinca verhaftet, über Monate hatte die Familie nichts von ihm gehört. Silverio glaubt, dass Levi nicht willkürlich, sondern gezielt wegen der Aktivistentätigkeit seines Vaters verhaftet wurde. Auch Silverios Schwester, zwei Cousins und sein Schwiegersohn sind in Haft.
Der Menschenrechtsanwalt Ovidio Mauricio ist sich sicher, dass Bukele den permanenten Ausnahmezustand und die Massenverhaftungen auch dafür nutze, seine verbliebenen Widersacher mundtot zu machen. Der Ausnahmezustand sei auf Bergbaugegner angewandt worden, auf Protestierende, auf Straßenverkäufer, um sie aus dem öffentlichen Raum zu vertreiben, selbst auf entlassene, nicht linientreue Behördenmitarbeiter.
Bukele installiere in El Salvador seit Jahren eine Diktatur, meint der Menschenrechtsanwalt. Laut Verfassung hätte er sich eigentlich für keine zweite Amtszeit bewerben dürfen. Bukeles Trick: Sechs Monate vor den Wahlen trat er kurz zurück. Und jetzt kann er im Prinzip durchregieren. Durch die Besetzung von hohen Gerichten und der Oberstaatsanwaltschaft habe er sich schon vor Jahren die Justiz gefügig gemacht, sagt Mauricio. Durch den Ausnahmezustand könne er jeden Prostest ersticken.
Bukeles Propagenda verfängt trotzdem bei der Mehrheit der Menschen, auch bei Eduardo: In seinem Viertel kenne er viele, die Bukele und den Ausnahmezustand ablehnten. Das seien eben die, die mit krummen Geschäften ihr Geld verdient hätten. Und natürlich seien die gegen Bukele. Bislang gibt es wenige Anzeichen dafür, dass Bukeles Rückhalt bröckelt. Auch wenn Umfragen zeigen, dass sich sieben von zehn Salvadorianern fürchten, ihre Meinung zum Ausnahmezustand öffentlich zu äußern, darunter also auch viele Anhänger.
Was könnte ihm also noch gefährlich werden, in seiner zweiten, und geht es nach ihm, wohl nicht letzten Amtszeit? Mittlerweile sind auch Kinder von Mittelschichtsfamilien inhaftiert worden, eine der wichtigsten Stützen des Präsidenten. Vor allem aber: Die Lebenshaltungskosten sind in den letzten zwei Jahren explodiert, die Staatskassen sind dem Vernehmen nach leer, auch wenn die Regierung grundsätzlich keine Informationen zur Lage der Staatsfinanzen und zur Verwendung von Geldern herausgibt.
Für diejenigen, die sich als Opfer von Bukeles Politik sehen, sind positive Nachrichten rar. Immerhin: Am 15. Mai konnte Anwältin Ariela González endlich die Freilassung von Levi, dem Sohn des indigenen Führers Silverio Morales, erreichen.
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