- Politik
- Sachsen
Im Paradies der sächsischen Linken
In Geringswalde stellten die Genossen fast so viele Bewerber auf wie alle anderen Parteien zusammen
Das Paradies der sächsischen Linken liegt inmitten sanfter Hügel und wird überragt vom 25 Meter hohen König-Friedrich-August-Turm, von dem der Blick an schönen Tagen bis zum Leipziger Völkerschlachtdenkmal und dem Fichtelberg reicht. Zu seinen Füßen sitzen fünf Menschen, die bei der Stadtratswahl am Sonntag in der 4300 Einwohner zählenden Stadt für Die Linke kandidieren. In manch anderem Ort wäre die Partei froh über so viele Bewerber; in ganz Südwestsachsen ist deren Zahl laut einer Analyse der »Freien Presse« gegenüber 2019 um satte 46 Prozent auf 287 gesunken. In Geringswalde aber stehen weit mehr Menschen auf der Bewerberliste, als jetzt unterm Turm sitzen. 19 Kandidaten bietet die Partei auf; Freie Wähler, CDU, FDP, Grüne und SPD bringen es in Summe nur auf 21. »Wir sind«, sagt Ortschef David Rausch, »ein gallisches Dorf.«
Das Wahljahr 2024 ist kein beliebiges. Schon lange nicht mehr war die Zukunft der Linken so ungewiss, noch nie in der Geschichte der Bundesrepublik waren die politische Landschaft und die Wählerschaft so polarisiert, noch nie seit der NS-Zeit war eine rechtsextreme, in Teilen faschistische Partei so nah an der Macht. Wir schauen speziell auf Entwicklungen und Entscheidungen im Osten, die für ganz Deutschland von Bedeutung sind. Alle Texte unter dasnd.de/wahljahrost.
Wie schafft man das? »Mit sozialer Politik, von der jeder Bürger etwas hat«, sagt Robert Sobolewski, der Chef der dreiköpfigen Ratsfraktion. Die Linke drängt auf niedrigere Kita- und Hortbeiträge oder preiswerteres Mittagessen für Kinder, sie stellte eine Demo mit 80 Teilnehmern auf die Beine, als der Stadtrat die Hundesteuer anheben wollte, oder organisiert Kulturveranstaltungen, bei denen kein Eintritt fällig wird, so wie jüngst beim Konzert von Sebastian Krumbiegel. Ein erfolgreicher Antrag bewirkte, dass die fünf zur Stadt gehörenden Ortschaften eigene Budgets erhalten: »Sie müssen nicht mehr für jeden Blumenstrauß zu einem Geburtstag betteln«, sagt Anja Berg aus dem 1994 eingemeindeten Altgeringswalde.
Außerdem setzt die Partei auf Bürgernähe. »Wir bleiben immer mit den Leuten im Gespräch, auch bei schwierigen Themen«, sagt Lars Wenzel. So soll auch der verbreitete Frust über eine angeblich abgehobene Politik abgebaut werden. Im Rathaus drängt die Fraktion auf mehr Transparenz, etwa einen Livestream der Ratssitzungen. Bisher verwehren das die Ratsmehrheit und die seit zwei Jahren amtierende Bürgermeisterin von den Freien Wählern. Ein Fehler, sagt David Rausch, der es als ihr Gegenkandidat auf 23 Prozent brachte: »Intransparenz schafft Verdrossenheit, und daraus wird schnell ein Rechtsruck.«
Der steht am Sonntag in vielen sächsischen Gemeinden zu befürchten. Es gibt Orte wie Oschatz, in denen die in Sachsen als rechtsextrem eingestufte AfD und die noch extremeren Freien Sachsen ein Drittel der Bewerber stellen. In Geringswalde haben beide Parteien keinen einzigen Kandidaten aufgeboten. »Die trauen sich hier nicht her«, sagt Rausch und kann deshalb augenzwinkernd, aber guten Gewissens eine Prognose für die Wahl formulieren: »Hier bekommen die Nazis weniger Stimmen als in Connewitz.« Das linke Leipziger Szeneviertel ist eine andere Hochburg der Linken in Sachsen.
Wie hoch der Stimmanteil der Partei in Geringswalde ausfällt und ob sie die 16,6 Prozent aus dem Jahr 2019 halten oder gar übertreffen kann, ist offen. Rückenwind verspürt man nicht wirklich; die Spaltung der Partei hat auch in der mittelsächsischen Provinz Spuren hinterlassen. »Das war uns keine große Hilfe«, sagt Robert Sobolewski diplomatisch. Er ist immerhin erleichtert, dass die Verhältnisse jetzt geklärt sind. David Rausch bedauert indes, dass mit Sahra Wagenknecht eine »sehr kompetente Politikerin rausgeekelt« worden sei. »Wenn der Pluralismus schon in der Partei scheitert«, sagt er, »wie sollen wir es da in der Gesellschaft hinbekommen?«
In Geringswalde haben sie keine Probleme mit Pluralismus. Von 19 Stadtrats-Kandidaten gehören nur zwei der Partei Die Linke an. Eine amtierende Stadträtin, die auch wieder antritt, unterstützt jetzt das Bündnis Sahra Wagenknecht. Viele andere haben gar kein Parteibuch, sind dafür aber im örtlichen Fußballverein engagiert, im Heimat- und Kulturverein, bei den Funkern oder in der Tiernothilfe – überall dort, wo man die Geringswalder trifft. Sven Gehrings Vater saß jahrelang für die SPD im Stadtrat. Er selbst tritt für Die Linke an: »Wenn man was verändern will, ist das eine gute Adresse.«
Noch läuft in Geringswalde der Wahlkampf. David Rausch und seine Leute klingeln an Türen, verteilen Flyer und träumen von kleinen linken Erfolgen auf dem Lande: »Die 50 Prozent in Altgeringswalde müssten doch zu knacken sein!« Für den Ortschaftsrat gibt es acht Bewerber. Die Linke stellt davon allein fünf.
Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.
Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.
Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.
Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.