Luciana Castellina: »Europa fehlt die Solidarität«

Luciana Castellina über die Europawahlen und den Frieden in Europa

  • Interview: Cyrus Salimi-Asl
  • Lesedauer: 9 Min.
Bei einer Pressekonferenz der Zeitung »Il manifesto« im Jahr 1974. Links im Hintergrund Luciana Castellina
Bei einer Pressekonferenz der Zeitung »Il manifesto« im Jahr 1974. Links im Hintergrund Luciana Castellina

Sie haben einen Aufruf veröffentlicht in der italienischen Tageszeitung »Corriere della Sera«, in dem Sie das neue Europaparlament dazu aufrufen, Initiative zu ergreifen für Friedensverhandlungen im Ukraine-Krieg. Warum gerade jetzt?

Meine Mitstreiter und ich standen immer in engem Kontakt zur Friedensbewegung, die vor allem über die ganzen 1980er Jahre sehr stark war in Italien. Für uns ist diese Initiative jetzt sogar noch dringlicher geworden, nachdem Nato-Generalsekretär Stoltenberg in unverantwortlicher Weise Angriffswaffen für die Ukraine gefordert hat.

Sie schreiben in Ihrem Appell, dass sowohl Moskau als auch Kiew erkennen sollten, dass sie ihre Ziele nicht erreichen können. Heißt das, die Ukraine soll auf die Wiedererlangung der nationalen Souveränität über den Donbas verzichten und die Krim aufgeben?

Ich war mehrere Male in der Sowjetunion und in Russland. Niemand kam es in den Sinn, dass die Krim nicht russisch ist. Sie wurde nur deshalb ukrainisch, weil Chruschtschow, nachdem sie jahrhundertelang zu Russland gehört hatte, sie der Ukraine geschenkt hat. Das sind Regionen, die seit Jahrhunderten mit Russland zusammenleben, aber auch gezeigt haben, dass sie weiterhin russisch leben und russisch sein wollen. Denken Sie daran, was in Jugoslawien passiert ist, wo ein Land nach dem anderen einfach ein Referendum abhielt und Jugoslawien innerhalb weniger Monate aufgelöst wurde.

Interview

Luciana Castellina, geboren am 9. August 1929, ist eine italienische Politikerin, Journalistin und Schriftstellerin, kommunistische Abgeordnete, mehrfache Europaabgeordnete. Sie ist Autorin zahlreicher Publikationen und eine der Gründerinnen der unorthodoxen kommunistischen Tageszeitung »il manifesto«. Für die Europawahl macht sie Wahlkampf für die Partei Italienische Linke (Sinistra Italiana-SI).

Aber nach der Auflösung der Sowjetunion war die Krim gemäß internationalem Recht Teil der Ukraine. Und im Falle der Referenden gibt es den Vorwurf der Manipulation.

Natürlich, ich will nicht Putin rechtfertigen, um Himmels willen. Aber man kann im Fall der Krim nicht Skandal schreien, wenn es in Jugoslawien einen Vertrag gab, der besagte, dass die Grenzen nicht verändert werden durften – und die Grenzen munter verletzt wurden. Die unabhängigen Staaten des ehemaligen Jugoslawiens wurden zuerst von Deutschland anerkannt, und zwar ohne irgendwelche Regeln, und jetzt erinnert man sich nicht mehr daran. Man muss also, wie immer, die Ereignisse in den historischen Kontext stellen. Ich möchte, dass man anerkennt, dass Putin, wenn er in seinem Land stark geworden ist, dies auch der Nato und der Europäischen Union zu verdanken hat. Als die Mauer fiel und sich dann die Blöcke auflösten, wurde die Nato von 12 auf 30 Länder rund um Russland erweitert, statt diese Situation zu nutzen, um eine Partnerschaft mit dem neuen Russland in einer Zeit großer Unruhe und Veränderung aufzubauen. So öffneten sie den Weg für Nationalismus und Revanchismus. Das entschuldigt Putin nicht, aber man muss sich daran erinnern.

Welche Folgen befürchten Sie für Europa, wenn der Krieg weitergeht?

Europa ist völlig abwesend. Ich war unter anderem erstaunt, als der Chef der Nato sagte, wir müssen Waffen liefern, damit wir auch in Russland einmarschieren können. Wozu haben wir dann Europa? Stoltenberg entscheidet, die Nato entscheidet, die Wahlen sind lächerlich. Wir stehen am Rande eines Weltkrieges und das wird im Wahlkampf praktisch nicht diskutiert. Und so ist es eine klägliche Übung.

Sie waren 20 Jahre Mitglied des Europäischen Parlaments. Was kann dieses Parlament überhaupt erreichen? Hat es die Möglichkeit, Dinge zu ändern?

Von dem Moment, als ich zum ersten Mal ins Parlament kam, bin ich von einer Sache überzeugt: Es stimmt nicht, dass es eine europäische Einheit gibt, eine natürliche, historische europäische Kultur. Jeder Triumphbogen in einem Land fällt mit einem Sieg und einer Niederlage zusammen. Wir haben es nicht mal geschafft, ein einheitliches Geschichtsbuch zusammenzustellen. Jedes Mal, wenn irgendein Komitee solch ein Buch vorbereiten sollte, wurde daraus nichts, weil der Sieg des einen über diesen Teil der Geschichte die Niederlage des anderen bedeutet. Und ich glaube nicht, dass wir das durch Verträge ändern können. Wenn Deutsche denken, dass die Griechen nicht arbeiten, weil sie faul sind, und die Griechen denken, dass die Deutschen immer noch Nazis sind, dann versteht man, dass Europa nicht konstruiert werden kann. Eines wurde in Europa in diesem Sinne gut gemacht, und zwar die Möglichkeit für Studierende, woanders in Europa zu studieren. Aber warum nur Studenten? Wissen Sie, was ich immer vorschlage? Erasmus für Straßenkehrer.

Warum gerade Straßenkehrer?

Zum einen, weil Müll zurzeit überall das zentrale Problem ist, zum anderen, weil alle Teile der Gesellschaft, nicht nur die Studierenden, sich daran gewöhnen müssen, in ein anderes Land zu gehen und zu lernen. Es braucht eine Verflechtung als Basis, die eine europäische Gemeinschaft aufbaut. Europa, die Europäische Union ist keine Gemeinschaft, sondern eine Ansammlung von Staaten. Jeder denkt an Wettbewerb, es gibt keine Gemeinschaft.

Wer sind die Partner der Linken im Parlament und außerparlamentarisch?

Ich habe die deutschen Grünen als natürlichen Partner betrachtet, war aber erschüttert, als ich eine sehr kriegslüsterne Position gesehen habe. Es hat eine Menge Aufruhr in den politischen Parteien in Europa und tiefgreifende Veränderungen gegeben. Ich bin trotzdem optimistisch. Die jungen Leute hegen Skepsis gegenüber dem Parlament, aber sie haben verstanden, dass wir vor großen, epochalen Problemen stehen. Sie denken, dass das Parlament sekundäre Dinge diskutiert, ohne die wirklichen Probleme anzugehen. Das heißt, sie verstehen, dass es so nicht weitergehen kann. Daher bin ich optimistisch, aber man muss den wirklichen Feind zerstören. Wissen Sie, wer der wahre Feind ist?

Europa to go

Ein Podcast, der dich anlässlich der Europawahl 2024 ins »Herz« der EU mitnimmt. Begleite uns nach Brüssel und erfahre mehr über Institutionen wie das Europäische Parlament, was dort entschieden wird und warum dich das etwas angeht. Der Podcast ist eine Kooperation von »nd«, Europa.Blog und die-zukunft.eu. Alle Folgen auf dasnd.de/europa

Nein, das weiß ich nicht.

Tina, das, was die Engländer Tina nennen: There is no alternative. Es hat eine Zeit gegeben, in der die junge Generation gedacht hat, dass nichts zu ändern sei, dass es keine mögliche Alternative gibt. Diese Haltung muss man besiegen. Ich arbeite viel in den Stadtvierteln und muss sagen, dass die ganz junge Generation spürt, dass sie die Protagonisten des Wandels sind. Sie verteilen keine Flugblätter über das, was im Parlament gesagt wurde, denn das ist langweilig und macht keinen Spaß.

Viele gute Initiativen des Europäischen Parlaments scheitern am Ministerrat, dem eigentlichen Machtzentrum der Europäischen Union. Muss das ganze System der Europäischen Union infrage gestellt werden?

Was fehlt, ist die Solidarität, aber die Solidarität gibt es nur innerhalb einer Gemeinschaft. Die EU-Verträge setzen die Wettbewerbsfähigkeit als oberstes Ziel, Wettbewerbsfähigkeit ist das Gegenteil von Gemeinschaft. Dennoch ist die Existenz der Europäischen Union sehr wichtig. Aber wir müssen wachsam sein, denn weder die nationalen Parlamente noch das Europaparlament sind die Machtzentren, wo entschieden wird. Das eigentliche Problem ist heute, dass man nicht mehr weiß, wo die Macht liegt. Als Bayer vor langer Zeit Monsanto gekauft hat, haben sie 75 Prozent des Marktes einer wichtigen Substanz für ihre Produkte unter Kontrolle gebracht. Sie haben dieses Geschäft bei einem privaten Notar mit privaten Anwälten abgeschlossen, ohne dass irgendein Parlament überhaupt konsultiert wurde. Und diese Vereinbarung hat mehr Konsequenzen als alle Entscheidungen, die in den letzten zehn Jahren von Parlamenten getroffen wurden.

Was kann Europa tun?

Europa muss eine besondere Rolle spielen, weil es in Europa viele Revolutionen gab. Karl Marx hat gesagt, dass sich der Kapitalismus in Europa entwickelt hat, als es noch sehr starke vorkapitalistische Gebilde gab und er sagte, die Aristokratie, die bäuerliche Welt und die Kirche, die Religion haben irgendwie verhindert, dass alles auf Waren reduziert wurde, und so gab es auch einen kulturellen Widerstand gegen die Kommodifizierung. Und ich sage immer, wenn man mich fragt, was es Gutes an Europa gibt, was wirklich europäisch ist: die Gastronomie. Jedes Land, jede Stadt hat ihre eigene Art zu essen. Das andere sind die Gewerkschaften, denn das ist die einzige Sache, die wir von Schweden bis Spanien haben. Die Gewerkschaften verhandeln nicht nur den Preis der Arbeit in Europa, sondern sind auch die Träger einer ideologischen Gemeinschaftsvision. Ich denke zum Beispiel an die Wohlfahrt, die ein europäisches Merkmal ist. Marx hat schon vor langer Zeit in diesem Sinne gedacht.

Auch progressive Kräfte der Linken sind kritisch gegenüber der Brüsseler Politik. Sollten Sie Ihrer Meinung nach die Europäische Union nicht trotzdem verteidigen?

Ich denke, dass die Idee einer europäischen Gemeinschaft als Subjekt verteidigt werden sollte, weil wir die Demokratie wieder von unten aufbauen müssen, weil es nicht sein kann, dass die wichtigsten Entscheidungen privat getroffen werden. Europa gehört zum Besten, was ich behalten möchte, was nicht heißen soll, dass ich mit allem einverstanden bin. Ich bin sehr kritisch, aber gleichzeitig stimme ich der Idee zu, dass Europa ein regionaler Pol neben anderen sein kann. Wir müssen zurück zu den Ideen von Gramsci und Rosa Luxemburg. Es muss Formen der direkten Demokratie geben, die mit Formen der delegierten Demokratie verflochten sind.

Brauchen wir den Staat also gar nicht mehr?

Das Aussterben des Staates wäre absurd, aber Formen der direkten Demokratie vor Ort in der Gesellschaft, Elemente des Kommunitarismus, sind, so glaube ich, absolut unverzichtbar, um eine Situation zu bekämpfen, in der wir nicht mehr wissen, wo die Macht ist und wie wir sie beeinflussen können. Der Europäismus muss jedoch begleitet werden vom Aufbau neuer Formen organisierter Demokratie und demokratisch organisierter Macht. Die Vorstellungen von Rosa Luxemburg und Gramsci sind fundamental. Das System, in dem alles von den Parlamenten entschieden wird, funktioniert nicht, da die Art von Partei, die die Gesellschaft mit den Institutionen verbunden hat, nicht mehr existiert. Es gibt eine ganze Reihe von Dingen zu tun, die der partizipativen Kontrolle durch die Menschen bedürfen. Damit müssen wir die Lücke füllen, die die demokratische Krise der Parteien hinterlassen hat.

Bei den Europawahlen wird nicht nur ein weiterer Rechtsruck erwartet, sondern es werden auch immer mehr Regierungen mit rechtsextremen Parteien gebildet, wie in Italien. Was sind die Ursachen dafür?

Der Kapitalismus ist in der Krise. Er hat entdeckt, dass sein Modell nicht funktioniert. Dass das Modell der Industrialisierung der ganzen Welt nicht funktioniert, es funktioniert aus ökologischen Gründen nicht und als Produktionsmodell. Der Kapitalismus hat sich seit den 1970er Jahren nicht weiterentwickelt, als er entdeckte, dass er nicht mehr in der Lage war, den sozialdemokratischen Kompromiss zu schließen, der die Gesellschaft, die europäischen Gesellschaften, 30 Jahre lang regiert hatte. Und was tut man, wenn man merkt, dass man schwach ist? Man greift zur Gewalt, was zu einem weiteren Abbau der Demokratie führen wird, was wir heute erleben.

Brauchen wir die Revolution?

Sie ist unabdingbar und ich sage, lasst uns anfangen, darüber zu reden. Aber es wäre auch etwas, was die Gewerkschaften angeht. Wenn ich diese Dinge sage, wird mir erwidert: Machen wir vielleicht eine kleine Revolution. Dann antworte ich: Okay, eine kleine Revolution, immer noch besser als gar keine.
Mitarbeit: Uwe Sattler

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