- Politik
- Wahlsieg für Rechtsextreme
Frankreich: Macron spielt Vabanque
Infolge des Ausgangs der Europawahl in seinem Land löst Frankreichs Präsident das Parlament auf und beraumt Neuwahlen an
Dass die Europawahl am Sonntag einen massiven Sieg des rechtsextremen Rassemblement National (RN) bringen würde, war absehbar. Die Entscheidung von Präsident Emmanuel Macron, als Schlussfolgerung daraus das Parlament aufzulösen und Neuwahlen anzuberaumen, war aber selbst für seine engsten Vertrauten eine Überraschung und für viele Franzosen ein Schock.
»Ich gebe Ihnen noch einmal Gelegenheit, Ihre Stimme einzusetzen, um Klarheit zu schaffen«, erklärte Macron eine Stunde nach Schließung der letzten Wahllokale an die Adresse der Wähler gewandt. »Ich habe Ihre Botschaft gehört und lasse sie nicht ohne Antwort«, sagte er in einer kurzen Fernsehansprache. »Nach diesem Tag könnte ich nicht so tun, als sei nichts geschehen.« Konsequenterweise gebe er den Wählern Gelegenheit, sich noch einmal klar und deutlich zu äußern. Darum löse er gemäß Artikel 12 der Verfassung die Nationalversammlung auf und beraume für den 30. Juni und den 7. Juli Neuwahlen an.
Damit reagiert Macron auf das Debakel seines Lagers und den großen Erfolg des rechtsextremen Rassemblement National bei der Europawahl am Wochenende. Die Partei von Marine Le Pen hatte mit 31,5 Prozent der abgegebenen gültigen Stimmen eine Steigerung gegenüber der Wahl von 2019 um acht Prozent erreicht. Es ist damit das beste Wahlergebnis ihrer Geschichte. Zählt man die Zahlen der Bewegung Reconquête von Eric Zemour und der Le Pen-Nichte Marion Maréchal sowie einiger gleichgesinnter Splitterparteien hinzu, die Bündnispartner von RN sind, können sich die Rechtsextremen in Frankreich auf nahezu 40 Prozent der wahlberechtigten Franzosen stützen.
Ein Podcast, der dich anlässlich der Europawahl 2024 ins »Herz« der EU mitnimmt. Begleite uns nach Brüssel und erfahre mehr über Institutionen wie das Europäische Parlament, was dort entschieden wird und warum dich das etwas angeht. Der Podcast ist eine Kooperation von »nd«, Europa.Blog und die-zukunft.eu. Alle Folgen auf dasnd.de/europa
Dagegen erreichte die Regierungspartei Renaissance, die aus der 2016 von Macron gegründeten Bewegung En marche hervorgegangen ist, nur 15,2 Prozent und verlor damit gegenüber 2019 mehr als ein Fünftel der Stimmen. Die Sozialisten verzeichneten 14 Prozent und verdoppelten die Zahl ihrer Stimmen im Vergleich zu 2019. Es folgten mit 8,7 Prozent die linke Bewegung La France insoumise, mit 5,5 Prozent die rechtsbürgerliche Oppositionspartei der Republikaner, mit 5,2 Prozent die Grünen und mit 2,5 Prozent die Kommunisten. Die Wahlbeteiligung lag mit 51 Prozent erstmals seit 1994 bei einer Europawahl wieder bei etwas mehr als der Hälfte der Wahlberechtigten.
Seit Wochen im Wahlkampf und noch am Sonntagabend kurz nach Bekanntgabe der ersten Hochrechnungen hatte der Parteivorsitzende und Spitzenkandidat des Rassemblement National, Jordan Bardella, von Emmanuel Macron neue Parlamentswahlen gefordert. »Die beispiellose Diskrepanz zwischen den Stimmabgaben für die Regierungsmehrheit und für uns als der stärksten Oppositionspartei ist ein klares Misstrauensvotum gegen den Präsidenten und seine Regierung«, sagte Bardella. Als kurz darauf Macron seine Entscheidung für Neuwahlen bekannt gab, begrüßte die RN-Fraktionsvorsitzende und Präsidentschaftskandidatin Marine Le Pen dies als »logischen Schritt im Geiste der Verfassung der Fünften Republik« und erklärte: »Wir sind bereit, die Macht auszuüben.«
Das wird allerdings von vielen Beobachtern der politischen Szene angezweifelt und darauf konzentriert sich die Debatte um die Gründe, die den Präsidenten bewogen haben, Neuwahlen anzuberaumen. Die einen vermuten, dass Emmanuel Macron darauf vertraut, dass die Aussicht, die Rechtsextremen schon in Kürze an den Hebeln der Macht zu sehen, die »republikanische Front« gegen sie über einstige Parteiengrenzen hinweg neu beleben kann.
Andere bewerten ein solches Kalkül als »höchst riskant«. Sie geben zu bedenken, dass der Wahlerfolg für RN vor allem als »Denkzettel« seitens der Franzosen zu werten sei, die einst große Hoffnungen in die von Macron versprochene neue Politik gesetzt hatten und die durch den dann tatsächlich verfolgten neoliberalen Kurs zutiefst enttäuscht wurden.
Andere Bobachter sehen in Macrons kühner Entscheidung den »richtigen und einzig möglichen Ausweg«, um eine Situation abzuwenden, in der das Land »unregierbar« würde. Der Abgeordnete François Ruffin von der linken Bewegung La France insoumise bezichtigt Macron, »mit dem Feuer zu spielen«. Andere Kritiker bleiben diplomatischer und warnen davor, »die Demokratie und die Institutionen in Gefahr zu bringen«.
Der Politikwissenschaftler Eugène Demoulin analysiert, dass Macron »die Flucht nach vorn« angetreten hat. Denn sollten die Rechtsextremen tatsächlich jetzt an die Regierung gelangen, so könnten sich die Franzosen in den Jahren bis zur nächsten Präsidentschafts- und Parlamentswahl 2027 davon überzeugen, dass die RN-Politiker »nur große Worte schwingen und kein bisschen erfolgreicher als ihre Vorgänger regieren«. Das könnte dann zur Folge haben, dass 2027 weder eine rechtsextreme Präsidentin gewählt wird noch diese sich auf eine durch ihre Bewegung gestellte Regierung stützen kann.
Wie die bereits in drei Wochen stattfindende Wahl ausfällt und ob das Rassemblement National dabei überhaupt in die Nähe der Macht kommt, wird stark von den linken Parteien abhängen.
Dessen sind sich diese bewusst. Da sich die 2022 gebildete linke Parteienallianz Nupes »überlebt« hat, wie der KP-Vorsitzende Fabien Roussel am Wahlabend feststellte, ruft dieser zusammen mit dem Parteivorsitzenden der Sozialisten, Olivier Faure, und dem LFI-Abgeordneten François Ruffin dazu auf, eine »Volksfront« zu bilden. Die Bewegung La France insoumise hat die anderen linken Parteien, Bewegungen und Organisationen für Montagnachmittag zu einem ersten Treffen zu diesem Thema eingeladen.
Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.
Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.
Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.
Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.