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Nationalismus ohne Nation: Über allem in der Welt

Den Nationalismus gab es bereits vor der Erfindung der Nation, wie der Germanist Hans Peter Herrmann in der Literatur um 1500 aufzeigt

  • Tobias Prüwer
  • Lesedauer: 6 Min.
Dichten fürs »Vaterland«: Darstellung des Reichsritters und Humanisten Ulrich von Hutten, der von 1488 bis 1523 lebte
Dichten fürs »Vaterland«: Darstellung des Reichsritters und Humanisten Ulrich von Hutten, der von 1488 bis 1523 lebte

Unsere Nation: Meister über alle anderen Nationen», schrieb der Erzbischof von Trier 1453. Unmissverständlich heißt es beim Humanisten Ulrich von Hutten wenige Jahrzehnte darauf: «Dann wem dies nit zu Herzen geht, / der hat nit lieb sein Vaterland, / ihm ist auch Gott nit recht bekannt.» Das zeigt: Deutschsein und deutsches Sein waren schon im Bewusstsein der damals Lebenden. Es brauchte noch keine real existierende Nation, um eine emotional aufgeladene Vorstellung von einer solchen zu haben – und daraus Schlüsse auf die eigene Gruppe und andere zu ziehen.

Dass ein früher Nationalismus bereits um 1500 in deutschsprachigen Gelehrtenkreisen und über diese hinaus kursierte, ist die erstaunliche Erkenntnis, die Hans Peter Herrmann in seinem Buch «Identität und Machtanspruch» zu Tage befördert. Erstaunlich ist diese Einsicht, weil sie der Lehrmeinung widerspricht und doch klar vor Augen liegt, schaut man wie Herrmann genau hin. Er zeigt gut begründet, dass ein Frühnationalismus – wie er ihn nennt – der Nation voranging und an der Zeitenwende zur Neuzeit stand.

Die Geburt der Nationen

Der Nationalismus folgte der Erfindung der Nation im 19. Jahrhundert, so lautet die gängige Vorstellung. In Frankreich habe sich der Nationalismus nach der Revolution 1789 herausgebildet, in den deutschsprachigen Gebieten ab den sogenannten Befreiungskriegen gegen Napoleons Armeen. Diese Überzeugung entstand nicht zuletzt auch als Reaktion auf Versuche früherer Historikergenerationen, das «Deutschtum» bis in die Vorzeit zu verlängern, wie es die Deutschtümler um 1900 und die Nationalsozialisten sowieso taten. Noch heute populäre Darstellungen ziehen eine Linie «der Deutschen» bis zu Varus-Bezwinger Arminius oder Ungarn-Stopper Otto dem Großen.

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Seit der Reichsgründung 1871 bildete sich demzufolge die Überzeugung heraus, die deutsche Nationalgeschichte habe im Nationalstaat ihre Erfüllung gefunden. Aus einer solchen historischen Legitimation erwuchsen politische Forderungen und Ideen der Volksgemeinschaft. Territorium, Sprache und Kultur – was man darunter verstand – sollten verbindende Elemente der Nation sein. Dieser Nationalismus einte nach innen und wirkte aggressiv bis kriegerisch nach außen. Entsprechend habe es solche Zusammenhänge zuvor nicht gegeben, jedenfalls nicht in dieser Form.

So schreibt beispielsweise der Historiker Dieter Langewiesche in «Nation, Nationalismus, Nationalstaat in Deutschland und Europa»: «Die Nation als Letztwert, der alle Forderungen rechtfertigt, (…) setzte sich erst im Laufe des 19. Jahrhunderts als gesellschaftliche Mehrheitsposition durch.» Entsprechend ermögliche es die «Begriffssonde ›moderner Nationalismus‹», diesen «von seinen mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Vorläufern scharf abzugrenzen». Gleichwohl wird bei solchem Vorgehen bereits vorausgesetzt, was gefunden werden soll: nämlich moderner Nationalismus. Auf diese Weise könnte man blind für frühere Entwicklungen werden, meint Hans Peter Herrmann. Er zeigt, dass auch der Frühnationalismus mindestens über einige Jahrzehnte sehr wohl eine breite gesellschaftliche Akzeptanz und auch eine «Handlungsrelevanz für gesellschaftliche Gruppen» aufwies, wie sie Langewiesche erst für das 19. Jahrhundert erkennt.

Nationalismus als Deutungsmuster

Herrmann bezieht sich in seinem Nationalismuskonzept vor allem auf den Soziologen Thorsten Mense, der in seiner «Kritik des Nationalismus» festhält: «Nationalismus ist vor allem anderen eine Denkform, eine spezifische und moderne Art und Weise, die Welt zu sehen und sich und andere in ihr zu verorten.» Entsprechend diene er der Identifikation und sei als ein Wahrnehmungsmuster wirksam. Nationalismus vermittelt ein Gefühl der Zugehörigkeit zu einer Nation und damit legitimiert er politische und soziale Ansprüche. Inhaltlich wird der Wesenskern dieser Zugehörigkeit über eine geteilte Historie, Kultur und/oder Abstammung bestimmt. Herrmann nennt den Nationalismus auch «Deutungsmuster», weil dieser damit als Aktivität sichtbar wird. Dieser ist nicht allein Idee oder Kopfgeburt, sondern hat eine ordnende Funktion.

Eine solche, die Welt kulturell, sozial und politisch in Ordnung zu setzende und damit Positionierungen ermöglichende Denkform verortet Herrmann bereits um 1500. «Ich werde Texte und deren Autoren behandeln, die von den Bedingungen, von der Bedeutung und der Zukunft einer deutschen Nation sprechen», sagt Herrmann über die politischen und literarischen Texte seiner Untersuchung. Mit dieser Auswahl geht er über die rein politische Funktion hinaus, die dem modernen Nationalismus häufig attestiert wird und beleuchtet auch die ästhetische Dimension des Nationalismus. Die Trennung in politische und ästhetische Funktionen ist dabei eine künstliche und rein analytische. Denn auch der moderne Nationalismus ist nicht allein politisch, sondern wird ästhetisch befeuert und als soziales Begehren wirkmächtig.

Vom Sein zum Sollen

Herrmanns Buchtitel «Identität und Machtanspruch» drückt diese zwei wesentlichen Aspekte des Nationalismus aus. Zwar war schon in Jahrhunderten zuvor immer einmal die Rede von «deutsch» oder «Nation», aber das waren Ordnungsbeschreibungen innerhalb der Universitäten, lose Zugehörigkeiten oder nur Kennzeichnungen hinsichtlich der Sprache («Deutsche Zunge»). Um fest bestimmbare Herkunft oder ähnlich Essenzielles ging es bei diesen «Nationen» nicht. An der Universität Prag etwa wurden Studenten nach den Nationen Böhmen, Bayern, Sachsen und Polen eingeteilt, wobei Menschen aus Österreich und dem Rheinland der bayerischen Nation zugeschlagen wurden, Skandinavier der sächsischen.

Maßgeblich in Adelskreisen erwuchs daraus schließlich eine identitäre Zugehörigkeitsidee in Abgrenzung zu anderen, aus der sich auch Machtansprüche ableiteten. Auf Konzilien diente der Begriff dazu, einen Überblick über die Delegationen zu behalten. Einige übertrugen das als Selbstbezeichnung, um etwa gegenüber dem Kaiser den Anspruch zu formulieren, die deutsche Nation – also die deutschen Fürsten – nicht zu vernachlässigen. Auch angesichts der Türken, die die europäischen Nationen als äußerer, noch dazu unchristlicher Feind bedrohten, erfolgte die allmähliche Ethnisierung der Nation. Sie stand als Funktionsbegriff im späten 15. Jahrhundert im Raum, den Humanisten fiel es dann zu, dies intellektuell auszuformulieren.

Diese Formulierung begann im Humanistenstreit zwischen den italienischen und deutschen Fraktionen, in dem sich spezifische Kulturbegriffe und -inhalte formten. Conrad Celtis etwa verzichtete als erster auf den Rückgriff auf die klassische Antike, um sich so abzugrenzen. Künstlergott Apoll würde auch in deutschen Landen fündig werden, so Celtis. Wahre Dichtkunst herrsche in diesen Landen, eine eigenständige, die der italienischen Vermittlung keinesfalls bedürfe. Celtis und andere Humanisten bauten bei der Poesie beginnend ein umfassendes «deutsches» Bildungsprogramm auf, das auch politische Erneuerung an den Höfen vorsah. Bildung wurde nationalisiert, um deutsche Landeskunde und Geschichte erweitert. Das geschah in programmatischer Absicht, denn nach dem Studium sollten kommende Eliten nationale Gedanken in die Kanzleien, Räte und Verwaltungen transportieren.

Schon früh mit Hass verquickt

«Herkunft», «Vaterland» und «Gemeinschaft» nennt Herrmann drei wiederkehrende Aspekte dieser Epoche, die auch Kern des modernen Nationalismus sind. «Damit war um 1500 unter deutschen Humanisten die Vorstellung von einem identitätsstiftenden ›deutschen Vaterland‹, von der Zusammengehörigkeit ›deutscher Menschen‹ und von einer eigenständigen ›deutschen‹ Kultur etabliert und die gelehrte Beschäftigung mit ihr als anspruchsvolle Tätigkeit anerkannt.» Für Herrmann ist das noch ein integrativer Nationalismus, weil er nach innen zielt. Aber auch hier finden sich merkwürdige Töne, wenn der Buchdruck zur deutschen Ingenieursleistung wird und sich einige Humanisten im ewigen Kampf mit Frankreich wähnen. Mit aggressivem Hass verquickt Ulrich von Hutten den Nationalismus, wenn er das Wunschbild vom bedeutenden Vaterland mit reformatorischer Kritik am italienischen Papst verbindet: «Erbarmt euch übers Vaterland, / ihr werden teutschen regt die Hand / und weil das nit mag sein in gut / so muß es kosten aber Blut.» Solcher Chauvinismus entfaltete für einige Zeit eine Breitenwirkung über Gelehrtenkreise hinaus.

Hans Peter Herrmann formuliert sauber argumentierend seine These aus, die er auch zur Erhellung des derzeit wieder erstarkenden Nationalismus anbringt. Ihm dabei zu folgen, ist eine intellektuelle Freude, zumal er sich um Verständlichkeit bemüht. Warum man den Frühnationalismus nicht früher wahrgenommen hat, wundert Herrmann selbst, der offen zugibt, von Studierenden auf die Problematik hingewiesen worden zu sein.

Hans Peter Herrmann: Identität und Machtanspruch. Deutscher Frühnationalismus um 1500? Geschichte, Theorie und Wirkungsmechanismen. Wallstein 2023, 176 S., geb., 24 €.

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