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Soziale Konflikte versus Patriotismus
Wie ukrainische Gewerkschafter die Situation in ihrem Land einschätzen
Zwei Jahre nach dem russischen Überfall ist die Lage in der Ukraine festgefahren. Obwohl ein Großteil der Bevölkerung die Folgen einer militärischen Niederlage fürchtet, versuchen viele Jüngere sich der Zwangsrekrutierung zu entziehen. Auf einer Gewerkschaftskonferenz in Berlin sprachen wir mit ukrainischen Kolleginnen und Kollegen über ihre Einschätzung der Lage.
Die Hochschullehrerin
Natalia Suslo, die im zentralukrainischen Krywyj Rih als Hochschullehrerin an der Technischen Universität arbeitet und Fachkräfte für das Stahlwerk von AcelorMittal ausbildet, vermeidet einen patriotischen Tonfall, wenn sie über den Krieg spricht. »Wir wollen ihn nicht, sondern eine wirtschaftliche Perspektive.« Allerdings schwingt in dem Satz auch mit, worum es bei dem Konflikt geht: Die Ukrainer*innen wollen selbst entscheiden können, ob sie ökonomisch sich Richtung Ost oder West orientieren.
Sowohl die Universität als auch das Stahlwerk, in dem nach wie vor 20.000 Menschen beschäftigt sind, seien regelmäßig von Raketenangriffen betroffen, berichtet Suslo. Ihre Heimatstadt Krywyj Rih liegt etwa 150 Kilometer westlich von Saporischschja, wo Russland vor bald zwei Jahren das Atomkraftwerk besetzte. Die Beschäftigten bei ArcelorMittal unterstützten zwar die ukrainische Armee, seien aber nicht an der Kriegsproduktion beteiligt. »Wir haben aus eigener Initiative Schutzwesten und Nachtsichtgeräte für Soldaten gekauft. Aber wir stellen keine Rüstungsgüter her.« Die Belegschaft versuche vor allem wirtschaftlich etwas zum wirtschaftlichen Aufbau des Landes beizutragen.
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Auch wenn es aus Suslos Sicht nach wie vor einen starken Widerstandswillen der Bevölkerung gibt, verheimlicht die Hochschullehrerin nicht, dass an ihrer Universität viele Studierende den Abschluss hinauszögerten, um nicht eingezogen zu werden. »Das ist verständlich«, sagt Suslo. »Im Krieg sollten diejenigen kämpfen, die das gelernt haben. Bei uns möchten viele Beschäftigte durch ihre Arbeit einen wirtschaftlichen Beitrag zum Sieg leisten – und nicht durch einen Fronteinsatz.«
Auf die Frage, ob der nach dem russischen Überfall überbordende ukrainische Patriotismus nicht auch zu einem Problem geworden sei, reagiert Suslo zögerlich. Kulturelle und Sprachunterschiede seien in der Ukraine eigentlich keine Konfliktlinien. Aus den besetzten Gebieten seien viele Russischsprachige in die Zentralukraine geflohen. Gleichzeitig erkennt die Hochschullehrerin aber auch an: »In der Öffentlichkeit versuchen wir unsere Identität zu zeigen, in dem wir Ukrainisch sprechen.«
Die Krankenpflegerin
Bei der im westukrainischen Lwiw lebenden Oksana Slobodiana fällt die Darstellung der Lage patriotischer aus. Für die Krankenpflegerin, die 2019 die Gewerkschaft »Be Like Nina« gründete, geht es um die Verteidigung der schon lange missachteten ukrainischen Identität. »Unser Kampf dauert seit einem Jahrhundert«, sagt sie. »Der Konflikt wird erst enden, wenn Russland die Grenzen unseres Landes anerkennt.«
Dennoch verschließt Slobodiana keineswegs die Augen vor den sozialen Widersprüchen im eigenen Land. Die Lage für Beschäftigte sei schon vor dem Krieg alles andere als einfach gewesen. »Aber jetzt ist alles noch schwieriger. Mit der Verhängung des Kriegsrechts hat die Regierung neoliberale Gesetze verabschiedet, und die Arbeitgeber schränken unsere Rechte ein.« Sorgen bereitet der Gewerkschafterin vor allem die Privatisierung des Gesundheitswesens. Sie sei zwar nicht grundsätzlich gegen Privatkliniken, aber befürchte, dass Menschen mit geringem Einkommen immer schlechter versorgt würden. Enttäuschung äußert sie auch über das Verhalten vieler Reicher, die im Krieg nur den eigenen Vorteil vor Augen oder sich gleich ganz im Ausland in Sicherheit gebracht hätten.
Auf die Nachfrage, ob sie es als Gewerkschafterin nicht auch als Verlust empfinde, wenn die eher plurinationale Identität, wie es sie in Zeiten der Sowjetunion gab, durch nationalistische Zuordnungen verdrängt werde, reagiert Slobodiana mit Kopfschütteln. »Klassenbewusstsein ist wichtig, aber ich möchte nicht in die sowjetische Vergangenheit zurückversetzt werden. Die ukrainische Identität hatte in der Sowjetunion keinen Platz. Meine Familie wurde damals verfolgt und hat sehr gelitten. Wir wollen – wie Polen oder Deutsche – als Nation anerkannt sein.«
Der Organizer
Der junge Organizer Artjom Tidwa von der kleinen linken Organisation Sozialnyj Ruch (Soziale Bewegung) führt sowohl nationale als auch pragmatische Argumente ins Feld, warum ein Sieg Russlands seiner Meinung nach unbedingt verhindert werden muss. »Ob die Ukrainer als ethnische Gruppe weiter existieren, hängt vom Ausgang des Kriegs ab. Wenn man von Russen spricht, denkt man nicht an Kalmücken oder Tartaren. Die russische imperiale Konstruktion erkennt ihre Existenz nicht an. Dasselbe würde nach einer Niederlage auch für uns gelten.« Darüber hinaus geht es Tidwa aber auch um soziale und politische Grundrechte. »Die Russen haben viele Aktive aus Zivilgesellschaft, Gewerkschaften und NGOs entführt. Außerdem ist die Neoliberalisierung in Russland weiter fortgeschritten«, betont der in Kiew lebende Organizer. »In der Ukraine gibt es zwar auch gewerkschaftsfeindliche Gesetze, aber die sind ans Kriegsrecht gebunden. In Russland dagegen ist es normal, wegen einer Demonstration verhaftet zu werden.« So sitze beispielsweise der Gründer einer russischen Rider-Gewerkschaft im Gefängnis. In der Ukraine dagegen seien die Polizeieinheiten zur Bekämpfung von Demonstrationen nach der Maidan-Revolution 2014 aufgelöst worden.
Ihm sei durchaus bewusst, dass auch die Europäische Union ihre ökonomischen Interessen verfolge und aus der Situation Profit zu schlagen versuche. »Aber bei einer Integration Richtung EU hat unsere Gesellschaft eine Chance auf eine Zukunft. Bei einer Unterwerfung unter Russland sehe ich das nicht.« Es sei Aufgabe der europäischen und ukrainischen Linken zu verhindern, dass die Ukraine einer neoliberalen Beutepolitik zum Opfer falle.
Tidwas Organisation hat seit Kriegsbeginn in mehreren Städten soziale Zentren gegründet, die als Treffpunkte für Feministinnen, Gewerkschafter und emanzipatorische Linke dienen. Außerdem kooperiert die Gruppe mit internationalen Organisationen bei lokalen Projekten zur Wasser- und Stromversorgung. »Wir setzen auf Solidaritätsnetzwerke und versuchen die Bedeutung von Selbstorganisation zu vermitteln.«
Dass die sowjetische Geschichte in der Ukraine nur noch negativ bewertet wird, hält Tidwa für einen Fehler. »Die meisten Schlachten im Krieg gegen Nazi-Deutschland fanden auf ukrainischem Territorium statt. Es ist falsch, diese Geschichte Russland zu überlassen. Putin steht in der zaristischen Tradition. Die Selbstverteidigung der Ukraine hingegen hat etwas Kommunistisches. Ohne das kostenlose Nahverkehrssystem und die öffentlichen Eisenbahnen wäre unsere Gesellschaft in den ersten Kriegsmonaten zusammengebrochen.«
Dass die ukrainische Identität heute so stark betont wird, bezeichnet Tidwa, der mit der eigenen Mutter Russisch spricht, als »postkolonialen Reflex«. Gleichzeitig hofft er darauf, dass es in den kommenden Jahren eine alternative Perspektive auf die Geschichte geben wird. »Wenn man sich früher als Linker bezeichnete, meinten die Leute, man würde die stalnistische Hungerpolitik der 1930er Jahre befürworten«, sagt Tidwa. »Wir wollen eine andere Vision von Sozialismus. Dafür brauchen wir keine Hammer-und-Sichel-Tattoos und T-Shirts mit sowjetischen Symbolen.«
Die Studentin
Katia Grizewa, von der Studentenorganisation Prjama Dija (Direkte Aktion) sieht das ähnlich. Die wichtigste Forderung ihrer Gruppe, die etwa 100 Studierende organisiert, sei die Verteidigung des öffentlichen Bildungssystems. Die Politik der westlichen Regierungen hält Grizewa in diesem Zusammenhang für wenig hilfreich. »Neoliberale Reformen sind auf dem Vormarsch, für viele Menschen verschlechtern sich die Lebensbedingungen.« Ein großes Problem für die Studierenden sei, dass der Unterricht wegen der Zerstörung von Universitätsgebäuden fast nur noch online stattfinde. Ihre männlichen Kommilitonen beschwerten sich zudem darüber, dass sie das Land wegen der Wehrpflicht nicht mehr verlassen dürfen.
Der Ansatz von Prjama Dija sei es, Studierende zusammenzubringen und solidarische Werte zu fördern. Dabei gehe es natürlich auch um die politische Zukunft der Linken. »Die Menschen werden uns danach beurteilen, was wir jetzt machen«, sagte Grizewa. »Wenn wir heute nicht kämpfen, wird die Politik nach dem Krieg nur noch von Rechten und Neoliberalen bestimmt sein.«
Hört man den Aktivist*innen zu, ist man eher skeptisch, ob der Widerstand gegen die russische Invasion eine emanzipatorische Perspektive besitzt. Die Hoffnung ukrainischer Linker besteht eher darin, eine Verschlechterung der Lebens- und Organisationsbedingungen zu verhindern.
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