25 Minuten

Hat man denn nirgends Ruhe? Ein Chefdenker, Chefphilosoph und Chefschwafelkopf stört in der Welt der Bücher

Ist das Leben nicht schön? Zumindest wenn alle mal die Fresse halten.
Ist das Leben nicht schön? Zumindest wenn alle mal die Fresse halten.

Ein circa 45 bis 50 Jahre alter Mann betritt das Antiquariat, in dem ich mich aufhalte. Man hört ihn schon in dem Augenblick, als die Ladentür aufgeht. »Da! Dat Geschäft hier kenn ick in- und auswendig! Komm ma’ rin hier jetze, dann kannste ooch rauskieken«, sagt er zu einer kleinen, deutlich jüngeren Person, die neben ihm steht.

Ich stehe derweil in einer der verborgensten Ecken des verwinkelten Ladens und blättere in einer alten illustrierten DDR-Ausgabe der fantastischen Erzählung »Der Horla« von Guy de Maupassant. Und höre den hereinkommenden neuen Kunden schon von Weitem. Er ist gar nicht zu überhören.

Die Antiquarin und ich sind bisher die einzigen sich im Geschäft aufhaltenden Personen gewesen. Der Mann geht forsch, mit ausgreifenden Schritten durch die Buchhandlung, so, als gehöre sie ihm. Er redet fortwährend, macht exaltierte Armbewegungen und zeigt dabei auf dieses oder jenes Regal. Typ selbstverliebter erfolgloser Künstler. Seinen ausladenden braungrauen Haarschopf hat er kunstvoll zu einer Art überdimensioniertem, vogelnestartigem Etwas zusammengezwirbelt, das von drei Stricknadeln zusammengehalten wird.

Im Schlepptau hat er eine junge, etwa 20-jährige Dame, auf die er in den folgenden 25 Minuten unentwegt mit lauter Stimme einredet, ohne Pause, ohne Punkt und Komma. Der Mann spricht in einem nicht von Zeit oder Erfahrung abgemilderten harten Berliner Dialekt.

»Da, schau ma’, dit is van Eyck und dat hier da Vinci! Mit Dürer und da Vinci kannste nüscht falsch machen, die gehen praktisch immer!« Er zeigt der schweigenden Frau, die auf diffus verliebte Weise zu ihm aufblickt, zwei Kunstkataloge, in denen er achtlos blättert, während er, ohne irgendeine Antwort oder einen Kommentar abzuwarten, immerzu weiterredet.

»Ja, die konnten noch wat! Nicht wie die sojenannten emanzipierten Künstlerinnen heute, die eenfach wat zusammenschmieren und sagen: Dit is Kunst. Und dann liegen denen die janzen Kritikerheinis zu Füßen.« Zwischendurch, in regelmäßigen Abständen, peppt er sein quälendes Endlosgerede mit irgendeiner Kalenderweisheit oder Allerweltsphrase auf, die er für pfiffig oder weise zu halten scheint. »Sei du selbst die Veränderung, die du dir wünschst für diese Welt, sach ick immer. Dit hat schon olle Konfuzius gesagt. Und nich verjessen: Man sieht nur mit dem Herzen jut!«

Es schert ihn nicht im Geringsten, dass in dem kleinen Laden, in dem lange Zeit Stille herrschte, keiner spricht außer ihm. Manchmal, wenn er kurz Atem holt, setzt seine Begleiterin einen Sekundenbruchteil lang zu einem Satz an, doch schon die erste Silbe, die ihren Lippen entweichen will, erstirbt ihr noch im Mundraum. Denn die Berliner Künstlertype labert schon wieder erbarmungslos weiter.

»Hier auch, guck ma’! Da! Schopenhauer! Nietzsche! Dit musst du lesen, die sind echt jut! Dat sind noch Denker jewesen! Nietzsche bisschen zu weich manchmal, aber Schopenhauer knorke! Vielleicht bisschen zu düster für dich, haha, aber 1A-Material!« Er greift wahllos irgendeines der Bücher aus einem Regal und beginnt laut vorzulesen. Es handelt sich offensichtlich nicht um eine von ihm ausgewählte Passage, er scheint den 600-Seiten-Band einfach an einer beliebigen Stelle aufgeschlagen zu haben. Man weiß nicht, ob er versteht, was er da vorträgt. Jedenfalls liest er minutenlang, so, als hätte er selbst das Vorgetragene soeben geschrieben und sei jetzt maßlos stolz darauf.

»Weeßte, dit is, weil ick mich auskenne. Die Alten Meister! Dit is meine Welt, sach ick dir! Die meisten verstehen davon nüscht!«

Es ist ihm egal, dass andere Menschen sich in seiner unmittelbaren Nähe aufhalten. Er ist vollauf beschäftigt mit dem Erzeugen des endlosen Redeflusses, der der vorderen Öffnung seines Kopfes entströmt. Er ist jetzt, in diesem Moment, der Mann auf der Bühne, der Hauptdarsteller, der große Philosophenkenner, der Supertyp, der Kunstexperte, das von seiner stummen Freundin angebetete Originalgenie. Niemand braucht ihm jetzt mit irgendeinem kleinbürgerlichen Kleinkram zu kommen.

»Ich sag dir, dat hier musst du lesen. Dat is Poesie! Olle Brecht nüscht dagegen!« Er drückt ihr, die still und unterwürfig entlang der Regale hinter ihm hergeht, ein Buch in die Hand, ohne sie dabei anzusehen. Er reicht das von ihm herausgegriffene Buch einfach hinter sich, wo es automatisch in ihrer Hand landet, ganz so, als sei sie an diesen Bewegungsablauf bereits seit Wochen gewöhnt. Sie ist sein Lakai, den er mit sich führt. Er ist der Chefdenker, Chefphilosoph, Chefschwafelkopf. Der ohne Gnade alle in seiner Umgebung in Grund und Boden und bei Bedarf auch in die totale Bewusstlosigkeit schwatzt und faselt.

»Jetzt komm ma’, wir gehen wat futtern, ick bin hier fertig.« Beide verlassen das Geschäft, er trabt voraus, dabei beharrlich und tapfer weiterquatschend, sie hinter ihm her. Die Antiquarin und ich atmen auf. Wir sehen uns an, wortlos, und wissen beide, was geschehen ist. 25 Minuten. 25 Minuten unseres Lebens wurden uns gestohlen. Die Zeit, sie ist für immer entschwunden.

Wohingegen der Typ morgen wiederkommen könnte.

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