»Kneecap« im Kino: Bumm, ratsch, boing, zack

Ganz was Neues: »Kneecap« ist eine Sex-, Drugs- und Hip-Hop-Filmkomödie, die sich für die Bewahrung der irischen Sprache stark macht

Früher nannte man das Musikvideo-Ästhetik.
Früher nannte man das Musikvideo-Ästhetik.

Ein Vater sitzt zu Hause in seinem Fernsehsessel. Vor ihm auf dem Teppichboden sitzen zwei Jungs im Erstklässleralter: Der eine ist sein Sohn, der andere dessen bester Freund. Der Vater hält eine Wasserpistole in den Händen. Die Kinder müssen Wörter in irischer Sprache aufsagen. Jedes Mal, wenn eines der beiden etwas falsch ausspricht oder das erfragte Wort nicht weiß, richtet der Vater seine Pistole auf das jeweilige Kind und spritzt ihm Wasser ins Gesicht. Strafe muss sein. Denn die irische Sprache ist wichtig. Sie ist, wie uns im Lauf des Films wiederholt mitgeteilt wird, die Sprache der Unterdrückten und von den Briten Kolonisierten; die Sprache, welche die irische Kultur und Tradition weiterträgt; die Sprache, die, nach dem Willen der Kolonisatoren, ausgelöscht werden soll. »Jedes gesprochene irische Wort ist eine Gewehrkugel für die Freiheit Irlands.«

Britisch sein heißt böse sein, so die Botschaft des Vaters. Er ist ein irisch-republikanischer »Patriot«, ein lange Jahre aktiver IRA-Militanter, der den beiden vor ihm sitzenden Kindern Renitenz beibringt. Sie sollen, wenn sie einmal groß sind, in seine Fußstapfen treten und die verhassten Engländer aus dem Land treiben. Einen letzten Rat hat er noch für die zwei kleinen Jungs, bevor er auf Nimmerwiedersehen verschwindet (denn er muss untertauchen): »Wenn ihr euch nachher im Fernseher den Western anschaut, dann seht ihn euch aus der Perspektive der Indianer an.«

nd.DieWoche – unser wöchentlicher Newsletter

Mit unserem wöchentlichen Newsletter nd.DieWoche schauen Sie auf die wichtigsten Themen der Woche und lesen die Highlights unserer Samstagsausgabe bereits am Freitag. Hier das kostenlose Abo holen.

Wir befinden uns im nordirischen Belfast. Brutalistische Sozialbauten aus den Siebzigern; an den Wänden Graffiti, die »Brits out!« (Briten raus!) verlangen. Und natürlich tragen alle Heranwachsenden den ganzen Tag über Trainingsanzüge. Auch die beiden mittlerweile zu jungen Männern gereiften Jungs, Naoise und Liam. Doch sie werden nicht zu IRA-Kämpfern, wenngleich sie als diskriminierte und als »Low-Life-Scum« (»zweifelhafte Elemente«, »Abschaum«) denunzierte jugendliche Herumtreiber natürlich nicht das beste Verhältnis zu britischen Staatsbeamten und Behördenvertretern haben. Sie haben andere Interessen, so wie die meisten normalen Jugendlichen: Ketamin, Koks, MDMA, Bier, Sex, Spaß, Techno-Raves. Und das nicht zu knapp.

Ein junger Musiklehrer – auch er steht der irischen Sache und dem Drogenkonsum sehr aufgeschlossen gegenüber – kann die beiden überzeugen, den Kampf gegen die britischen Imperialisten und für die irische Sprache fortan als Hip-Hop-Combo zu führen, bei der jugendliche Rebellion und Widerborstigkeit gemixt wird mit der Bewahrung des nationalen irischen Kulturerbes. »Ihr müsst euch das so vorstellen: Die irische Sprache ist wie der letzte Dodo, der eingesperrt in einer Glasvitrine vegetiert. Und wir müssen ihn befreien.« Das überzeugt die beiden jugendlichen Dropouts, wenn sie zuerst auch nicht wissen, wer oder was ein Dodo ist. Woraufhin man das antiimperialistische Musiktrio »Kneecap« gründet. Als Beatmaker fungiert der junge Musiklehrer, der auf der Bühne eine Sturmhaube in den irischen Nationalfarben trägt. Na ja.

Interessieren Sie sich für Nordirland und den britisch-irischen Bürgerkrieg? Sie sollten es jedenfalls, wenn Sie die Absicht haben, sich diese rasant geschnittene Filmkomödie anzusehen. Die eine oder andere Anspielung dürfte Ihnen sonst entgehen. Und ich meine nicht das kurz zu sehende Poster mit dem Konterfei von Margaret Thatcher, das anscheinend beim Darts anstelle einer Dartscheibe verwendet wird und neben welchem eine obszöne Zeichnung prangt. »Wofür ist Belfast bekannt? Für Explosionen, George Best und Kniescheiben (›Kneecaps‹).« Bei der militanten katholisch-nationalistischen Befreiungsbewegung oder Terrororganisation (je nach Blickwinkel) Irisch-Republikanische Armee (IRA) hat man früher Verräter bestraft, indem man ihnen die Kniescheibe durchschossen hat.

Ein junger Musiklehrer kann die beiden Jungs überzeugen, den Kampf gegen die britischen Imperialisten und für die irische Sprache fortan als Hip-Hop-Combo zu führen.

Rich Peppiatts Debütfilm ist lustig. Und er ist eine energiegeladene, visuell überkandidelte Angelegenheit: rasende Schnittfolgen, Manipulationen der Abspielgeschwindigkeit des Films, Schriftzüge und andere Kritzeleien ploppen im Filmbild auf, auch mal eine Splitscreen-Szene, plötzlich auftauchende Knetanimationsfilmsequenzen und allerlei andere Spielereien, etwa die fröhliche Verquickung von Bilderfolgen, die Rauscherfahrung wiedergeben, mit solchen, die die (filmische) Realitätsebene wiedergeben. Bumm, ratsch, boing, zack. Verfahren wurde hier erkennbar nach dem Motto: Mach mal bisschen lauter und schneller. Fehlt eigentlich nur noch das fortgesetzte Durchbrechen der vierten Wand. Dazu erfolgt die Dauerbeschallung des Betrachters mit Hip-Hop-Beats plus Agitationspoesie. Formal ist das zwar nichts Neues, aber im Vergleich zur beamtenhaft-lethargischen Handhabung von Kamera und Schnitt, wie man sie von den meisten deutschen Filmen kennt, haben wir’s hier mit dem reinsten koks- und ketaminbefeuerten Bilderrausch zu tun, weswegen der Film von Rezensenten auch in inflationärer Weise mit Danny Boyles 90er-Jahre-Klassiker »Trainspotting« verglichen wurde. Früher nannte man das Musikvideo-Ästhetik. Und klar: Peppiatt hat früher Musikvideos gedreht. Logischerweise wird hier auch wieder mal häufig »fuck«, »shite« und »cunt« gesagt. Das Belfaster Rap-Trio Kneecap gibt es im Übrigen tatsächlich. In dem Film, der die skurrile Entstehungsgeschichte der Band erzählt, spielt es sich drolligerweise selbst und verzichtet dabei nicht auf Selbstmythologisierung.

Die Mischung aus Band-Biopic und Komödie hat bisher mehrere Preise gewonnen und ist Irlands Beitrag für die kommende Oscar-Verleihung in der Kategorie »Bester internationaler Spielfilm«.

Am Ende verweist der Abspann zum gefühlt hundertsten Mal auf die gebetsmühlenhaft im Film breitgetretene Botschaft: »Alle 40 Tage stirbt irgendwo auf der Welt eine indigene Sprache aus.« Wollen wir hoffen, dass der Film keine Inspiration für sorbische oder schwäbische Jugendliche auf Identitätssuche sein wird.

»Kneecap«, United Kingdom/Irland 2024. Regie und Buch: Rich Peppiatt. Mit: Naoise Ó Cairealláin, Liam Óg Ó Hannaidh, JJ Ó Dochartaigh, Josie Walker, Fionnuala Flaherty, Jessica Reynolds, Adam Best, Simone Kirby, Michael Fassbender. 105 Min. Jetzt im Kino.

- Anzeige -

Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.

Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.

Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.

Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.