»Sinn und Form« wird 75: Rettet den Geist der Zeit!

75 Jahre »Sinn und Form« – nun auch digital

  • Gunnar Decker
  • Lesedauer: 6 Min.
Aus Anlass des 75-jährigen Jubiläums von »Sinn und Form« wird das digitale Archiv von 1949 bis 1991 eröffnet.
Aus Anlass des 75-jährigen Jubiläums von »Sinn und Form« wird das digitale Archiv von 1949 bis 1991 eröffnet.

Was wäre gewesen, wenn nicht der Bundespräsident Richard von Weizsäcker die 1988 gleichzeitig in Ost und West erschienene Reprintausgabe der ersten zehn Jahre von »Sinn und Form« (1949 bis 1958) als einen Höhepunkt deutscher Geistesgeschichte gerühmt hätte? Vermutlich hätte die Zeitschrift die frühen 90er Jahre nicht überlebt.

»Sinn und Form«, gegründet von Johannes R. Becher und Paul Wiegler, repräsentierte anfangs den Anspruch der DDR auf deutsche Nationalkultur ebenso wie auf jenen Internationalismus, der der europäischen Gegenwartsliteratur ein Forum geben wollte. Unter den deutschen Autoren waren es vor allem Emigranten, die nach Deutschland zurückgekehrt waren – die allermeisten von ihnen gingen in die DDR, nicht in die Bundesrepublik Adenauers. Die Rückkehrer unterschieden sich deutlich voneinander. Johannes R. Becher und Georg Lukács etwa kamen aus Moskau zurück, Arnold Zweig aus Palästina, Anna Seghers aus Mexiko. Für Ernst Bloch und Hans Mayer führte der Weg aus den USA an die Leipziger Universität. Brecht kam ebenfalls aus Amerika in den Osten. Andere wie Ernst Niekisch, der als »Nationalbolschewik« 1932 mit dem Buch »Hitler ein deutsches Verhängnis« für Furore gesorgt hatte und von den Nazis wegen Hochverrats zu lebenslangem Zuchthaus verurteilt worden war, saß dann ab 1949 für die SED in der Volkskammer. Sie alle prägten mit ihren so unterschiedlichen Erfahrungen – und Ausdrucksformen – die ersten Jahre der »Sinn und Form«.

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Becher, damals Kulturbund-Chef, forcierte seine Idee der deutschen Nationalkultur, auf deren Basis er hoffte, die deutsche Einheit vorbereiten zu können. Nachdem Adenauer jedoch die »Stalin-Noten« zur deutschen Einheit von 1952 endgültig zugunsten von Westbindung und Nato abgelehnt hatte, war auch Bechers Politik gescheitert. Vor diesem überaus dramatischen Hintergrund muss man die ersten Jahrgänge lesen. Es ist eine Fundgrube vielfältigster Denkansätze und Stilmittel, die bis heute Ihresgleichen sucht.

Erster Chefredakteur wurde Peter Huchel, der mit unpolitischen Arbeiten als Autor nach 1933 die NS-Zeit zu überstehen versuchte, bis er 1941 als Soldat eingezogen wurde. Sein unpolitisches Selbstverständnis brachte er für »Sinn und Form« mit – und das war von Becher gewollt, weil er sich von der Zeitschrift eine gesamtdeutsche Wirkung versprach. Dass sie Kommunisten waren, war von den Autoren nicht gefordert, entscheidend war das literarische Niveau. Mit Hegel galt es für ihn, »die Zeit in Gedanken zu fassen« – was das Gegenteil von Ideologie meint. Dieser Anspruch auf »Geist« polarisierte von Anfang an – bis heute. Aber politisch handhabbar im Sinne von Friedrich Wolfs »Kunst ist Waffe« wollte »Sinn und Form« nie sein. Dichtung barg hier Philosophie, was die Form des Essays ins Zentrum des Interesses rückte.

Gleich das erste Heft 1949 scheint programmatisch. Romain Rolland eröffnete mit seinen »Jugenderinnerungen«, dem folgten Gedichte aus dem Nachlass von Oskar Loerke. Da lesen wir dann in »Genesungsheim«: »Was schlug man diesen zum Krüppel? / Er dachte hinter der Stirn: / Da öffnete ihm der Knüppel / den Schädel, und Hirn war wieder nur Hirn.« Dem folgt Majakowskis »Ich selbst – Eine Autobiografie«, die anhebt: »Ich bin Dichter. Das macht mich interessant. Darüber schreibe ich. Über den Rest auch – soweit wortgeworden.« Es folgen Gedichte aus der Resistance (mit Aragon), Tagebuchaufzeichnungen von Gerhart Hauptmann, Niekischs Anmerkungen zum Problem der Elite bei Ortega y Gasset und Hermann Kasacks Erzählung »Der Webstuhl«. Was für ein Heft, in dem man sich sofort wieder festliest. Und so geht weiter, Nummer für Nummer, jeden zweiten Monat.

Vor 35 Jahren zeichnete der Filmemacher Thomas Grimm das 40-jährige Jubiläum von »Sinn und Form« in der Akademie der Künste auf. Welch ein denkwürdiges Dokument, so kurz vor der Wende. Einer der Hauptakteure war damals bereits Sebastian Kleinschmidt, der an der Humboldt-Universität Philosophie studiert und über Georg Lukács promoviert hatte. Sie Vater war der Schweriner Domprediger und religiöse Sozialist Karl Kleinschmidt, der in der DDR mit dem Benimmbuch »Keine Angst vor guten Sitten« bekannt wurde. Seit 1984 in der Redaktion wurde er 1991 Chefredakteur. Bei der Vierzigjahrfeier wurde nicht zuletzt über die für die DDR-Kulturpolitik zentralen Debatten in »Sinn und Form« gesprochen – in den 80er Jahren erlebte ich diese als Student hautnah am Beispiel von Ernst Bloch und Friedrich Nietzsche, um deren Zugehörigkeit zum Kanon des kulturellen Erbes in der Zeitschrift erbittert gestritten wurde. Denkwürdig war der dramatische Aufeinanderprall von Wolfgang Harich und Stephan Hermlin im Fall Nietzsches. Daran ließe sich eine ganze DDR-Geistes- und Mentalitätsgeschichte entwickeln.

»Sinn und Form« hatte zu DDR-Zeiten eine Auflage von deutlich unter zehntausend Exemplaren (heute sind es noch viel weniger), da konnte man sich den Luxus einer zensurfreien Zone leisten. Es lag aber zunehmend Melancholie in der Luft. Im ersten Heft von 1979 lese ich »Meine diamantenenkrone«, die Erinnerungen von Valentin Katajew, dem Autor des hochpoetischen und tief verstörenden Buches »Das Gras des Vergessens«. Ein schonungsloser Befund über die Stadt Moskau findet sich hier: »Die Erinnerung wird zerstört wie die alte Stadt. Die öden Flecken des im Umbruch begriffenen Moskau füllen sich mit neuem, architektonischem Inhalt. Und in den Ruinen der Erinnerung blieben nur die Schemen von heute bereits nicht mehr existierenden, von ausradierten Straßen, Gassen, Sackgassen ...«

Ein ähnliches Gefühl überkam mich in Berlin nach 1990. Ein Glücksfall war es da, dass mir Sebastian Kleinschmidt 1992 für einen ersten Text (über Luise Rinser) die Zeitschrift öffnete, dem dann noch ein halbes Dutzend weiterer folgten. Unter Kleinschmidt, der bis 2013 der Zeitschrift vorstand, hatte Erinnerung immer etwas Drängendes, nie etwas Beliebiges.

Und nun die Veranstaltung zu »75 Jahre ›Sinn und Form‹« in der Akademie der Künste am Pariser Platz. Aus diesem Anlass wurde auch das digitale Archiv von 1949 bis 1991 eröffnet, mit immerhin 4000 Texten. Das Podium demonstriert Kontinuität, obwohl Sebastian Kleinschmidt nicht aus seiner Sommerresidenz in Ahrenshoop anreisen mochte. Hier ist es nun – an der Seite der beiden moderierenden Redakteure Matthias Weichelt und Elisa Primavera-Lévy – Friedrich Dieckmann, der die geistige Tradition der Zeitschrift verkörpert. Der Sohn des DDR-Volkskammerpräsidenten Johannes Dieckmann brachte es in einem halben Jahrhundert auf mehr als einhundert Beiträge in »Sinn und Form«, was ihn zum unangefochtenen Spitzenreiter macht.

Ulrich Matthes liest diverse Beiträge aus früheren Heften, von Dieckmann eine bissig-polemische Antwort an den Historiker Wolfgang Ruge, der Dieckmann eines bürgerlichen Geschichtsrevisionismus bezichtigt hatte. Eugen Ruge hat später in seinem Roman »In Zeiten des abnehmenden Lichts« seinen Vater Wolfgang als Opportunisten charakterisiert. Aber immerhin, Wolfgang Ruges postum 2010 bei Matthes & Seitz erschienenes Buch »Lenin, Vorläufer Stalins« (Hg. Wladislaw Hedeler) ist erhellend. So widersprüchlich also sind jene in Person, die den »Geist der Zeit« in Begriffe zu fassen versuchen.

Das Podium geizt mit Erinnerungen. Angela Krauß zelebriert geradezu ihre Amnesie, als sie nach ihrem ersten Text in »Sinn und Form« von Mitte der 80er Jahre gefragt wurde. Daran konnte sie sich absolut nicht mehr erinnern. Mit dem Gedächtnis ist es offenbar ein wunderliches Ding. Denn auch Kerstin Hensel hört die ersten ihrer in der Zeitschrift abgedruckten – sehr schönen – Gedichte nun wie zum ersten Mal.

Es ist Ulrich Matthes, der diese Texte lesend vergegenwärtigt. Auch die »Drei nackten Männer« von Franz Fühmann, die erstmals in »Sinn und Form« erschienen. Volker Braun inspirierte sich dann an dem Sujet vom hohen Funktionär und seinem Fahrer für seinen »Hinze-Kunze-Roman«. Seltsam, wie doch immer eines mit dem anderen zusammenhängt.

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