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  • Uni-Proteste in Argentinien

»Ein Attentat auf unsere Funktionsfähigkeit«

Die großen Proteste gegen den Sparkurs an den argentinischen Hochschulen haben die Regierung Milei überrascht. Einige Kürzungen hat sie zurückgenommen

  • Malte Seiwerth, Buenos Aires
  • Lesedauer: 7 Min.

An der Sozialwissenschaftlichen Fakultät der Universität von Buenos Aires (UBA) hängen Plakate, die zum politischen Kampf gegen Javier Milei aufrufen. Die Stimmung wirkt ausgelassen. Selbst die Dekanin der Fakultät, Ana Arias, wirkt zuversichtlich. »Die Demonstrationen waren historisch. Sie zeigten, wie wichtig die öffentlichen Universitäten für die argentinische Gesellschaft sind.«

Am 24. April demonstrierte rund eine Million Menschen im ganzen Land für eine öffentliche Finanzierung der Universitäten und kritisierte die Sparmaßnahmen der Regierung im Hochschulbereich. Es waren die größten Demonstrationen seit Jahrzehnten, sie übertrafen selbst die Generalstreiks der vergangenen Jahre. Arias meint, die Proteste hätten der Regierung die Grenzen aufgezeigt.

Als im Februar bekannt wurde, dass die Regierung das Budget für alle staatlichen Universitäten auf dem Niveau des Vorjahres einfrieren wollte, war das für die öffentlichen Universitäten eine Hiobsbotschaft. »Das war ein Attentat auf unsere Funktionsfähigkeit«, erklärt Arias. Denn bei einer Inflation von über 260 Prozent im Jahr kam dies einer Kürzung von über 70 Prozent des Haushalts gleich, wie die Universitäten vorrechneten.

»Als ich hier ankam, herrschte an der Universität eine Endzeitstimmung«, sagt der Erstsemesterstudent Pascual Corrales. »Täglich kamen politische Organisationen zu uns in die Klassenräume und erklärten, die Universität stehe kurz vor dem Aus. Wir wussten nicht, ob wir das Jahr oder gar das Semester beenden können.« Die Universitäten reagierten auf den Engpass und schalteten – halb aus der Not, halb aus Protest – nicht unbedingt benötigte Lichter, Fahrstühle und Heizungen aus.

Die Mittelkürzung für die Universitäten war Teil der Wirtschaftspolitik der Regierung. Seit ihrem Amtsantritt im Dezember 2023 versuchte sie, überall zu sparen, insbesondere im Bereich der Bildung, Arbeit und sozialen Unterstützung. Sie fasste kurzerhand die Ministerien der drei Bereiche zu einem neuen Ministerium für Humankapital zusammen, setzte Sozialpläne aus oder hielt die Budgets auf dem Vorjahresniveau. Das Ziel lautete, den Staatshaushalt auszugleichen und die Inflation einzugrenzen.

Im Falle der Bildung zielte die Sparmaßnahme auf das argentinische Aushängeschild der öffentlichen, kostenlosen und qualitativ hochwertigen Hochschulbildung ab. Corrales kommt aus Chile. Er ist nach Buenos Aires gezogen, um an der Universität von Buenos Aires Philosophie zu studieren. Die kostenlose Bildung, der hohe Standard und das vielfältige kulturelle Leben bewegten ihn dazu, ins Nachbarland zu gehen. Anders als in Argentinien müssen Studierende ohne Stipendium in Chile selbst an öffentlichen Universitäten Semestergebühren bis zu 4000 Euro zahlen.

Die Dekanin Arias erklärt, dass die argentinischen Universitäten Sinnbild eines Sozialstaates sind, der in vielen anderen Gesellschaftsbereichen nicht erreicht worden ist. »Wir sind kostenlos, geben universellen Zugang und haben keine maximalen Platzzahlen in den Studiengängen.« Alle – mit oder ohne argentinischen Pass –, die eine obligatorische Schulzeit durchlaufen haben, können sich an einer Universität einschreiben.

Der Qualität der Forschung und Lehre scheint diese Praxis nicht zu schaden. In internationalen Rankings erscheinen mehrere argentinische Universitäten regelmäßig auf den ersten Plätzen innerhalb Lateinamerikas. Aber derzeit ist die Sorge groß, dass mit den Einsparungen an den Hochschulen und am Institut für Forschung Conicet das Niveau der Wissenschaft abnimmt.

Dabei herrscht schon seit Jahren eine Finanznot an den argentinischen Universitäten. Bereits im vergangenen Jahr wurde eine dringend benötigte Aufstockung der Mittel gefordert. Vor allem im Bereich der exakten Wissenschaften machten Forscher*innen darauf aufmerksam, dass fehlende Laborinstrumente ihre Arbeit erheblich erschwerten.

An der sozialwissenschaftlichen Fakultät habe sich erst in diesem Jahr die Lage verschlechtert, erklärt Luis Lozano, Professor für Kommunikationswissenschaften. Wegen der fehlenden Mittel sei es unmöglich geworden, Forschungsreisen zu unternehmen oder die Ausstattung zu modernisieren. »Auch unsere Forschungsbudgets wurden eingefroren.« Die Auswirkungen sind gravierend: »Unser derzeitiges Forschungsprojekt sah vor, Bücher zu drucken. Doch das ist bei den jetzigen Preisen nicht mehr möglich.« Lozano sieht es auch als belastend an, »wenn man ständig von der Regierung attackiert wird«. Bereits mehrmals bezeichnete Präsident Milei die öffentlichen Universitäten und insbesondere die Sozialwissenschaften als »Schule der Indoktrination«.

Rodrigo Homberg (rechts) hofft darauf, dass die Proteste an den Universitäten eine Basis für weitere Widerstände gegen die Regierung Milei sein werden.
Rodrigo Homberg (rechts) hofft darauf, dass die Proteste an den Universitäten eine Basis für weitere Widerstände gegen die Regierung Milei sein werden.

Finanziell lohne es sich kaum noch zu forschen, meint Lozano. »Unsere Löhne sind seit November eingefroren. Das entspricht einem Lohneinbruch von rund 35 Prozent.« Es sei kaum noch möglich, alleine von der Lehre zu leben. »Kollegen, die sich komplett auf die Forschung konzentriert haben, suchen heute nach Nebenjobs«, erklärt er. Schon seit Jahren machen Professor*innen regelmäßig auf ihre prekäre Situation aufmerksam. 2019 arbeitete ein Drittel aller Lehrkräfte an der Universität von Buenos Aires ohne Lohn. Für sie zählt einzig das Prestige, an einer der besten Universitäten des Kontinents zu unterrichten.

Doch nicht alle an den Universitäten verteufeln die neue Politik von Milei. »Der Staat funktioniert nicht und ist komplett korrupt«, analysiert ein Jurastudent, der anonym bleiben möchte. Es sei daher gut, Privatisierungen vorzunehmen und den Staat zu verkleinern. Doch mit den Sparmaßnahmen an den Universitäten ist auch er nicht einverstanden, »die UBA ist eine der wenigen Institutionen, die funktionieren. Daher finde ich es falsch, die öffentlichen Universitäten anzugreifen.« Auch er steht hinter den Demonstrationen vom April.

Am Eingang der Universität raucht Lucía, die ebenfalls anonym bleiben will. »Mich motiviert die aktuelle Krise beim Studieren«, erklärt sie. »Ein Studium in Politik oder Geschichte hilft mir, die Krise zu verstehen und historisch einzuordnen.« Aber auch für sie ist das Leben unsicher geworden. Sie arbeite mehr als 35 Stunden in der Woche in drei verschiedenen Jobs und komme dennoch nicht über die Runden. »Am Ende des Monats muss ich trotz der Arbeit meine Eltern um Geld bitten.« Sie überlegt daher, aus ihrer WG auszuziehen und zurück zu ihren Eltern zu gehen.

Seit Jahren schon lebt Argentinien mit einer wirtschaftlichen Krise und Inflation. Doch die Löhne passten sich meistens der Inflation an, und staatliche Preisgrenzen sorgten dafür, dass die Kosten für Nahrungsmittel, Mieten, Energie, Wasser und Transport kaum anstiegen. Die Regierung Milei drehte die Logik um: Sie verhinderte die Anwendung neuer Gesamtarbeitsverträge, fror den Mindestlohn auf etwa 200 Euro ein und ließ staatliche Preisdeckelungen fallen. Mieten können mittlerweile ohne Grenzen steigen und in jeglicher Währung bezahlt werden; der Preis für ein Ticket im öffentlichen Verkehr stieg innerhalb weniger Monate um das 20-fache, und Lebensmittel sind inzwischen teurer als in Deutschland.

Auch in der Mittelschicht krisele es, meint Rodrigo Holmberg, der sich bei der Initiative Urbana für die Hochschulpolitik an der UBA einsetzt. »Ich kenne viele Familien, die ihre letzten Ersparnisse aufwenden, um ihren Lebensstandard aufrechtzuerhalten.« Immerhin habe Anfang des Jahres eine etwas günstigere, genossenschaftlich geführte Mensa eröffnet, erzählt er. Aber viel könne die Universität nicht für die Studierenden tun, um sie in der Finanznot zu unterstützen.

Für die Universitäten scheint derweil zumindest der akute Engpass überwunden zu sein. Im Zuge der Proteste lenkte die Regierung ein, bewilligte Extrabudgets und berät mit den Universitätsdirektor*innen über eine weitere Finanzierung. Offenbar war selbst sie über die Massenproteste überrascht. Denn im Gegensatz zu sonstigen Demonstrationen waren nicht nur die üblichen linken Organisationen und Gewerkschaften auf der Straße. Holmberg sieht diese Erfahrung als Basis für einen breiteren Widerstand. »Wir haben schon einmal eine neoliberale Regierung davongejagt.« Während der Wirtschaftskrise von 2001 trat Präsident Fernando de la Rúa nach Massenprotesten zurück. »Ich denke, wir schaffen das wieder.«

Doch abgesehen von dem Konflikt um die Universitäten sitzt die Regierung weiterhin fest im Sattel. Die durch Milei verursachte soziale Not wird noch immer von einem Teil der Gesellschaft als notwendiges Übel angesehen, um das Land zu reformieren. In Umfragen befürworteten Ende April weiterhin rund 50 Prozent der Befragten den Regierungskurs. Bei einer solchen Ausgangslage schaffen die Universitätsproteste keinen allgemeinen Wandel. Aber sie bändigen eine Regierung, die den Staat am liebsten ganz abschaffen würde.

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