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Wie der Staat gewaltbetroffene Mütter alleinlässt
Viele Betroffene erleben auch nach der Trennung von ihrem Partner psychische Gewalt. Jugendämter und Familiengerichte sind dabei oft keine Hilfe.
Im August 2022 gab Lisa ihre Kinder für ein Wochenende zum leiblichen Vater. Ein sogenannter »Wochenendumgang«, üblich, wenn getrennte Eltern sich die Kinderbetreuung aufteilen. Doch statt der Kinder kam an diesem Wochenende ein Brief zurück: Sorgerechtsentzug. Lisa sei »bindungsintolerant«, heißt es darin, sie manipuliere die Kinder und verhindere eine Bindung zum Vater. Sie hingegen sagt: ein Versagen der Behörden, institutionelle Gewalt.
Neun Jahre war Lisa mit ihrem Partner zusammen, verheiratet, Hausfrau, voll und ganz für die Kinder da, wie sie sagt. Die beiden hätten schon damals »keine gute Beziehung« geführt. Ihr Mann sei fremdgegangen, habe dabei hinter ihrem Rücken ein weiteres Kind gezeugt. 2019 folgte die Trennung – ab da wurde es noch schlimmer, sagt Lisa.
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»Er fing an mich zu stalken, hatte alle meine Passwörter, kannte immer meinen Aufenthaltsort«, erzählt Lisa. Die beiden einigten sich auf ein Wechselmodell mit den Kindern. Auch wenn diese, Lisa zufolge, gar nicht zu ihrem Vater wollten. Zu sehr hätten sie selbst unter der psychischen Gewalt des Vaters gelitten. Immer wieder wandte sich Lisa ans Jugendamt und bat um Unterstützung.
Dort jedoch erfuhr sie nicht die Hilfe, die sie sich erhoffte. Im Gegenteil: Bald flatterte die Anweisung ins Haus. Das Sorgerecht wurde an eine Übergangspflegerin gegeben, die Kinder sollten nun vorerst beim Vater leben. Die Maßnahme sei notwendig, da die Mutter aktiv die Bindung zum Vater störe und damit sein Recht, die Kinder zu sehen, behindere. Seit diesem Tag vor anderthalb Jahren wohnen Lisas Kinder beim Vater.
Besser nicht drüber reden
Für das, was Lisa beschreibt, lassen sich viele Begriffe finden. Psychische und institutionelle Gewalt, Nachtrennungsgewalt – vor allem aber sind ihre Erfahrungen keine Einzelfälle, wie eine neue bundesweite Studie der Frauenrechtsorganisation »Terre des Femmes« zeigt. Darin wurde unter knapp 1000 gewaltbetroffenen Müttern, die vom Vater ihres Kindes getrennt leben, das Machtgefälle nach der Trennung untersucht. Die Ergebnisse deuten auf eine strukturelle Diskriminierung von gewaltbetroffenen Müttern hin. Demnach wird Partnerschaftsgewalt gegenüber Müttern in Umgangs- und Sorgerechtsangelegenheiten nicht genügend berücksichtigt oder sogar ausgeblendet und die betroffenen Mütter damit zusätzlich gefährdet – mitunter werden die Gewalterfahrungen sogar gegen die Mütter ausgelegt.
»Nachtrennungsgewalt ist ein unterschätztes Thema«, sagt Johanna Wiest, Referentin für häusliche Gewalt und verantwortlich für die Studie. Nicht selten erleben Mütter, die sich aus gewalttätigen Beziehungen trennen, anschließend Gewalt durch Institutionen. »Viele Frauen beschreiben, dass Vätern vor Gericht oft ungeprüft Glauben geschenkt wird, ihren Darstellungen hingegen weniger«, so Wiest. »Die meisten Frauen finden es wichtig, dass die Kinder Kontakt zum Vater haben. Doch wenn die Übergabe der Kinder eine Gefahr für erneute körperliche oder verbale Gewalt ist, Väter sich nicht an Abmachungen halten, unzuverlässig sind, dann wird das vor Gericht kaum anerkannt.«
Wenn das Umgangsrecht missbraucht wird
Nach Paragraf 1684 BGB ist »jeder Elternteil zum Umgang mit dem Kind verpflichtet und berechtigt« und Kinder haben das »Recht auf Umgang mit jedem Elternteil«. Kommt es zur Trennung, wird die Kindersorge meistens aufgeteilt. Jedoch teilen sich nur zwölf Prozent der getrennten Paare diese gerecht auf. Der Partner, bei dem das Kind weniger Zeit verbringt, erhält stattdessen das sogenannte Umgangsrecht, also das Recht, das Kind zu sehen. In den meisten Fällen ist das der Vater.
In Familiengerichten kann genau dieses Recht jedoch zur Folge haben, dass gewaltbetroffene Frauen nicht geschützt werden. Denn das Recht des Vaters, seine Kinder zu sehen, stehe über dem Recht der Frau auf Unversehrtheit, sagt Wiest. »Wenn Frauen in Sorgerechts- oder Umgangsverfahren die erfahrene Partnerschaftsgewalt thematisieren, dann heißt es oft, es gehe hier um ihre Kinder und sie müssten den Kontakt zum Vater ermöglichen«, sagt sie. »Oder es wird sogar gegen sie ausgelegt, sie hätten die Kinder früher aus diesem Umfeld entfernen müssen.«
Nicht selten würden Väter das Umgangs- und Sorgerecht bewusst nutzen, um Nachtrennungsgewalt gegenüber der Mutter auszuüben, erklärt Wiest. Hier mangele es dem Rechtssystem an einem Verständnis für Täterstrategien. »Das Wechselmodell ist mit Vorsicht zu genießen, denn es erfordert sehr gute Kommunikation und ständigen Kontakt. Bei starken Konflikten ist das weder für das Kind, noch für irgendwen sonst schön.« Natürlich sei ein regelmäßiger Kontakt zu beiden Eltern wünschenswert, so Wiest. Doch wenn es einem Elternteil nur darum ginge, Macht und Kontrolle über die Mutter auszuüben, sei es zumindest fraglich, ob ein Wechselmodell die richtige Option sei. »Viele Frauen berichten, dass die Männer ihnen während der Trennung mit einem Sorgerechtsentzug gedroht hätten, um sie zu bestrafen oder von der Trennung abzuhalten.«
Umstrittenes Konzept Bindungsintoleranz
Ähnliches hat es auch Lisa erlebt. »Nach der Trennung hat mein Ex-Mann mir viel gedroht und gesagt, er werde mir alles nehmen«, erzählt sie. »Vorher hatte er kaum Interesse an den Kindern, aber trotzdem hat er mir sie weggenommen.« Nachprüfen lassen sich ihre Erzählungen nicht, klar aber ist, dass in Lisas Fall ein häufig angewandtes, wenngleich sehr umstrittenes Konzept herangezogen wurde: die Bindungsintoleranz, auch als Entfremdung bekannt.
Das Konzept stammt vom US-Psychiater Richard A. Gardner, der das »Parental Alienation Syndrome«, kurz PAS bekannt machte. Demnach müssen Kinder, die nach der Trennung plötzlich einen Elternteil ablehnen, vom anderen Elternteil manipuliert worden sein. Psycholog*innen und -therapeut*innen weisen das Konzept europaweit seit Jahren zurück, unter anderem, weil es keine klaren Klassifikationskriterien für das Syndrom gibt und weil andere Gründe greifen können, weswegen ein Kind den Elternteil ablehnt. Dennoch wird es in deutschen Familiengerichten immer wieder angewandt. In Paragraf 1684 BGB heißt es weiter, »die Eltern haben alles zu unterlassen, was das Verhältnis des Kindes zum jeweils anderen Elternteil beeinträchtigt«. Nicht selten wenden Familiengerichte das Konzept der »Bindungsintoleranz« oder der »Entfremdung« an, um diesen Tatbestand erfüllt zu sehen.
Abgesehen von der fehlenden wissenschaftlichen Grundlage gibt es jedoch ein zentrales praktisches Problem: Der Vorwurf greift häufig, wenn Frauen sich und ihre Kinder vor häuslicher Gewalt schützen wollen. Mehrere Recherchen, etwa von »Correctiv« und der »Süddeutschen Zeitung« belegen Fälle, in denen das Umgangs- und Sorgerecht von Müttern in Folge des Vorwurfs eingeschränkt und auf die mutmaßlich gewalttätigen Väter übertragen wurde. Entweder, weil sie als Manipulation der Kinder oder als Rachefeldzug gegenüber dem Ex-Partner ausgelegt werden.
»Mütter rutschen mit der Geburt in eine finanzielle Abhängigkeit, die ausgenutzt werden kann.«
Johanna Wiest Terre des Femmes
Oft werden dabei die negativen Auswirkungen von häuslicher Gewalt auf Kinder missachtet, die diese auch dann erleben, wenn sie nicht selbst körperlicher Gewalt ausgesetzt sind. Auch, wenn Väter »nur« die Frau, nicht aber die Kinder schlagen, leiden diese unter der psychischen Gewalt und der Konfliktsituation zu Hause und zeigen häufig im Anschluss negative Reaktionen auf den gewalttätigen Elternteil. Genau dieses Verhalten kann aber in Verfahren gegen die Mutter ausgelegt werden, als Manipulation durch die Mutter. »Dort heißt es dann, ›ein schlechter Partner kann noch ein guter Vater sein‹, selbst wenn es bereits strafrechtliche Indikatoren gibt«, sagt Johanna Wiest. »Die Frauen verlieren in der Folge das Vertrauen in den Rechtsstaat und haben das Gefühl, allein gelassen zu werden. Eine besonders gravierende Form der institutionellen Gewalt.«
Schon 2022 attestierte der EU-Expertenausschuss »Grevio«, der zur Umsetzung der Istanbul-Konvention einberufen wurde, der deutschen Justiz erhebliche Mängel. In einem Bericht forderte man die deutschen Behörden 2022 dazu auf, alle notwendigen Maßnahmen zu ergreifen, »um sicherzustellen, dass alle relevanten Berufsgruppen, die über Sorgerecht und Besuchsrecht entscheiden, (...) wissen, dass es für die sogenannte ›elterliche Entfremdung‹ und ähnliche Konzepte keine wissenschaftliche Grundlage gibt«. Darüber hinaus müssten sie »sich der negativen Auswirkungen von Gewalt eines Elternteils gegen den anderen auf die Kinder bewusst (sein) und diese berücksichtigen«.
Antifeministisches Gedankengut
Doch warum hält sich das Konzept dennoch so hartnäckig? Eine Gruppe ist dafür insbesondere verantwortlich: sogenannte Väter- oder Männerrechtler. Diese sehen ein vermeintlich von Frauen dominiertes System und betrachten sich als benachteiligte Gruppe im Familienrecht. Viele von ihnen beraten Männer in Trennungen, wie sie das alleinige Sorgerecht ihrer Kinder erhalten und empfehlen dabei unter anderem explizit, auf das Konzept der »Bindungsintoleranz« zu setzen.
Im September 2023 veröffentlichte das Recherche-Netzwerk »Correctiv« eine umfassende Recherche. Darin identifizierten sie ein Netzwerk, das »Verbindungen in trübe, anti-feministische Milieus« pflege, häusliche Gewalt verharmlose und »die Gleichstellung von Frauen unter Beschuss nehme«. Nicht selten entstehen Bünde von Männerrechtlern mit Rechten und Maskulinisten. Die Recherche war vor allem deshalb bemerkenswert, weil sie zeigte, bis wie weit in die Politik die »Männerrechtler« vernetzt sind und dort ihre Agenda verbreiten.
Eine besonders prominente Figur der Bewegung ist Stefan Rücker. Der Psychologe berät Väter in Trennungsprozessen, hält Vorträge und ist medial sehr präsent. Zuletzt stand er öffentlich unter Beschuss, da er sich jahrelang als Leiter der »Gruppe Kindeswohl« der Universität Bremen vorstellte. Die Universität jedoch wies dies mehrfach zurück – Rücker habe nie dort gearbeitet. Obwohl seine Verbindung in die Männerrechtler-Bewegung leicht online einzusehen ist, erhielt er im April die Möglichkeit eines ausführlichen Interviews im Magazin »Stern«. Vor allem verdeutlichte das Interview die Fähigkeit der Bewegung, sich medial zu verkaufen und ihre frauenfeindliche Agenda mit dem vermeintlichen Kampf für das Kindeswohl zu verschleiern.
Der Glaube, Frauen seien in familienrechtlichen Verfahren bessergestellt, ist jedoch auch über die Kreise der Väterrechtler hinaus weit verbreitet. Tatsächlich müssen sich unverheiratete Väter ihre Vaterschaft und das Sorgerecht erst von einer Behörde anerkennen lassen, während Frauen ihre Mutterschaft naheliegenderweise qua Geburt sofort zuerkannt wird. Daraus folgt jedoch keine Besserstellung vor dem Familienrecht, sagt Johanna Wiest. Sie weist dies als Irrlauben aus der »Väterlobby« zurück. »Die Umfrage zeigt etwas anderes«, sagt Wiest. »Vielmehr wird Männern in Familiengerichten häufiger Glauben geschenkt.«
Ein Blick in die Zahlen lässt den Vorwurf, Männer würden bei der Kindersorge benachteiligt, absurd erscheinen. Die Realität zeichnet ein gegensätzliches Bild, denn auch heute ist die Arbeitsverteilung während der Partnerschaft selten gleichberechtigt aufgeteilt. Nur jeder fünfte Vater übernimmt derzeit, dem Väterreport des Familienministeriums von 2023 zufolge, die Hälfte der Kindersorge. Neun von zehn Alleinerziehenden sind Frauen. Auch in der Studie von Terre des Femmes gaben alle Teilnehmerinnen an, die Arbeitsverteilung sei schon vor der Trennung zu ihren Lasten ungleich verteilt gewesen. Während sich Väterrechtler eine strukturelle Benachteiligung attestieren, kümmern sich Väter also auch heute noch von sich aus deutlich weniger.
Auch Lisa beschreibt eine Bevorzugung ihres Expartners vor Gericht. Mit mäßigem Erfolg kämpft sie dort weiter. Bisher hat sie jedoch nur kleine Erfolge erzielen könnten. Ihre Kinder darf sie jetzt an einigen Wochenenden wieder sehen. Ihr Anwalt habe ihr geraten, die Ruhe zu bewahren. »Er hat mit erklärt, dass man im Einzelfall häufig nicht viel machen kann, wenn der Vorwurf der Bindungsintoleranz erst einmal auf dem Tisch ist. Je mehr man macht, desto schlimmer«, sagt Lisa. Stattdessen müssten sich die Strukturen ändern. Lisa selbst sagt, sie versuche »gar nichts mehr zu hoffen«. Als Frau habe man kaum eine Chance.
Arme, arme Alleinerziehende
Die geschlechtsspezifische Komponente der Nachtrennungsgewalt spielt sich auch auf anderen subtilen Ebenen ab, die nicht immer sofort zu erkennen sind. Ein großer Faktor ist die finanzielle Gewalt. »Heutzutage ist es normal geworden, dass Paare sich irgendwann trennen. Die Ehe auf Lebenszeit ist nicht mehr sehr gängig.« Dadurch entstehe jedoch ein Problem: »Mit dem Ende der traditionellen Ehe sehen sich Väter nicht mehr in der Rolle des Versorgers, während Mütter sich mit Beginn der Mutterschaft noch immer sehr vulnerabel machen.« Tatsächlich verdienen 30-jährige Mütter heute im Schnitt 70 bis 80 Prozent weniger als gleichaltrige Väter, wie eine Studie des ifo-Instituts zeigt. Im Vergleich zu anderen europäischen Ländern ist die Einkommenslücke zwischen Müttern und Vätern in Deutschland damit am höchsten. »Mütter rutschen dadurch mit der Geburt in eine finanzielle Abhängigkeit, die ausgenutzt werden und es ihnen unmöglich machen kann, sich der Situation zu entziehen«, so Wiest.
Dieses finanzielle Machtgefälle wird durch die Situation nach der Trennung verstärkt. Von allen Haushaltstypen sind Alleinerziehende am häufigsten von Armut betroffen, insgesamt 40 Prozent. In heterosexuellen Partnerschaften hängt das direkt mit den Vätern zusammen: Jede zweite alleinerziehende Frau bekommt keinen Unterhalt, weitere 25 Prozent bekommen weniger Unterhalt, als ihnen zusteht. Übersetzt bedeutet das: Nur ein Viertel der Väter, die sich nicht gleichberechtigt um ihr Kind kümmern, zahlt den Müttern ihrer Kinder den Unterhalt, der ihnen zusteht.
Für Wiest ein weiterer Grund, den Vorwurf der manipulierenden Mutter zurückzuweisen. »Es gibt sicher die kleine Gruppe von Frauen, die manipulieren und lügen und dem Vater schaden wollen«, so Wiest. »Aber in der Realität sind es oft die Väter, die lügen. Wer will schon alleinerziehend sein? Das machen Mütter wirklich nur dann, wenn die Involvierung des Vaters in die Kindererziehung noch mehr Stress bedeutet.«
Im Familienrecht gibt es ein Beschleunigungsgebot für Verfahren, damit die Kinder geschützt werden. »Das aber bringt Mütter in die Situation, sich nach der Trennung, wenn sie noch psychisch belastet und traumatisiert sind, plötzlich wieder im Familiengericht mit ihrem Expartner konfrontieren zu müssen, wo kein Gewaltschutz stattfindet«, kritisiert Wiest. Terre des Femmes fordert deshalb unter anderem eine Entschleunigung in familienrechtlichen Prozessen.
Außerdem fordert die Organisation einen Zusatz für Paragraf 1626 BGB, durch den das Recht auf Umgang eines Elternteils fällt, sobald häusliche Gewalt im Spiel ist. Das wäre auch für Lisa ein Hoffnungsschimmer. Könnte sie belegen, dass sie psychischer Gewalt ausgesetzt war und würde diese Gewalt vom Familiengericht als relevanter Faktor einbezogen werden, dann hätte sie vielleicht die Chance, den Vorwurf der Bindungsintoleranz auszuräumen und das Sorgerecht für ihre Kinder zurückzugewinnen.
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