Bei Sekt und Bowle über den Osten nachdenken

Die drei ostdeutschen Frauen Annett Gröschner, Peggy Mädler und Wenke Seemann betrinken sich und besprechen den idealen Staat

  • Livia Lergenmüller
  • Lesedauer: 4 Min.
Mit ein bisschen Alkohol denkt es sich wieder viel leichter in andere Regionen.
Mit ein bisschen Alkohol denkt es sich wieder viel leichter in andere Regionen.

Ostfrauen lassen ihre Kinder schreien. Auf dem Balkon. Ostfrauen sind Muttis und junge Omis, sie arbeiten gern, auf dem Bagger oder Mähdrescher. Ostfrauen haben unrasierte Beine, sie sind rockfeindlich, aber nicht rockmusikfeindlich. Mit diesen Klischees steigen die Autorinnen Annett Gröschner, Peggy Mädler und Wenke Seemann in ihren Gesprächsband ein, der den sperrigen, ironisch anmutenden Titel »Drei ostdeutsche Frauen betrinken sich und gründen den idealen Staat« trägt.

Das Klischee der ostdeutschen Frau, die mit Wodka und Zigarette in der Hand nächtelang in der Küche über Ideale diskutiert, sehen die Autorinnen schonmal erfüllt: Sieben Nächte lange setzen sie sich zusammen, trinken Sekt, Bowle oder Gin Tonic und sinnieren über ihre Identität als Ostfrau heute wie damals, über die DDR und den Wechsel vom Sozialismus zum Kapitalismus. Mal in Peggys Wohnung in der Mainzer Straße in Berlin-Friedrichshain, mal auf ihrer Datsche nördlich von Berlin, mal in einem Prenzlberger Hinterhof, gegenüber einer Vonovia-Wohnanlage.

Munter assoziieren sich die drei Frauen durch den Abend. Es geht um die Rolle der Frau und die Frauenbewegung in der DDR, um Paragraf 218, Identitätspolitik, Eigentum und die Privatisierung von Wohnraum nach der Wende. Ostfrauen sind, erinnern die Autorinnen, eben auch Franziska Giffey und Manja Schreiner, »die uns im Berlin des 21. Jahrhunderts die autogerechte Eigentümer*innenstadt als Zukunft verkaufen wollen und wie Giffey jeden Eingriff in die Eigentumsverhältnisse der Daseinsvorsorge als Rückfall in DDR-Verhältnisse denunzieren«. Oft sind die Gespräche lustig, manchmal wird es melancholisch, gegen Ende nicht selten beschwipst. Nur für die Diskussionen über AfD und Putin wolle man lieber nüchtern sein, mahnt Gröschner, da kommt man natürlich nicht drumherum.

Man erinnert sich an frühere Glaubenssätze, Peggy etwa sagt, sie sei ein »äußerst naives Weltfriedenskind« gewesen, das gedacht habe, der Sozialismus führe »geradewegs auf die solidarische Weltgemeinschaft« zu. Niemand der drei Frauen sehnt sich in die DDR zurück, die Marktwirtschaft wird jedoch ebenso kritisch bewertet. Und so wird natürlich kein »idealer Staat« gegründet, vielmehr setzt das Buch auf gleichzeitiges Denken, fordert, Moralismus beiseitezulassen, Widersprüche auszuhalten und ergebnisoffen darüber nachzudenken, wie ein besseres Leben möglich sein könnte.

Nachdem im letzten Jahr zwei Bestseller von Katja Hoyer und Dirk Oschmann die Debatte über das Verhältnis von Ost- und Westdeutschland neu entfacht haben, im Buch als »Oschmann-Hoyer-Welle« bezeichnet, kommt nun das Gegenstück zu den intellektuellen Analysen und Feuilletondebatten: ein munterer Gesprächsband, der als bunter Mix aus Anekdoten und Erinnerungen daherkommt, hier und da gespickt mit soziologischen und historischen Einordnungen von Ko-Autorin Wenke Seemann.

Stilistisch jedenfalls hält das Buch das Versprechen, das der Titel gibt: Man liest drei Frauen, die sich betrinken, beim Unterhalten zu. Das Konzept des aufgeschriebenen Podcasts muss man mögen, teilweise wirkt es etwas unstrukturiert und ziellos, nicht selten schweifen die Gespräche ab. Mal verliert sich das Gespräch auch und findet erst ein paar Seiten später zum eigentlichen Punkt zurück. Etwas Geduld und Freude am Konzept braucht man, um hier dranzubleiben. Auffangen kann es das Buch durch seinen Witz und Charme sowie durch die gelegentlichen faktischen Einordnungen durch Seemann.

Definitiv gewinnen würde das Buch durch mehr Reibung und Meinungsverschiedenheiten, die sicher spannende Denkanstöße bringen würden. Stattdessen sind sich die frei Frauen recht einig in all ihren Meinungen. Ohnehin aber gibt es keine handfesten Thesen und fertigen Analysen und erst recht keine Lösungen, den Anspruch haben die Autorinnen auch gar nicht. Vielmehr lässt sich das Buch als Ermunterung verstehen, einander zuzuhören, nachzudenken und aufeinander zuzugehen. Der Ton ist konsequent liebevoll und konstruktiv statt problematisierend. Eine Haltung, die in diesem Jahr, mit drei Ost-Wahlen im Herbst und prognostizierten AfD-Stimmen auf dem Höchststand, sicher wertvoll ist.

Gesprächsbände als Konzept sind Geschmackssache. Letztlich leben sie aber vom Gehalt ihrer Gespräche. Das Buch »Drei ostdeutsche Frauen betrinken sich und gründen den idealen Staat« dokumentiert zweifelsfrei interessante Gespräche, von der die Rezensentin, immerhin zehn Jahre nach der Wende als Tochter von Wessis geboren, einiges lernen konnte. Einzig eine deutliche Schwachstelle offenbart das Buch: Als Peggy Mädler fragt, ob »Proletarier aller Länder vereinigt euch« heute eigentlich noch auf der Titelseite des »nd« steht, antwortet Wenke Seemann, sie habe lange keine aktuelle Ausgabe mehr in der Hand gehabt. Das können wir natürlich nicht gutheißen.

Annett Gröschner, Peggy Mädler, Wenke Seemann: Drei ostdeutsche Frauen betrinken sich und gründen den idealen Staat. Hanser Verlag, 320 S., geb., 22 €.

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