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Berliner Blues: Die Kämpfe auf Schicht
Viele Gags, aber nur wenig Solidarität: In »Berlin Nordost Blues« erzählt Andreas Gläser von Menschen, die wenig Geld haben
Kurze Klärung vorweg: Literatur ist nicht, wenn jemand schreibt, was er oder sie fühlt und denkt oder woran sich erinnert wird. Zur Literatur wird das Geschriebene erst, sobald andere sich erinnern, wenn bei den Lesern und Leserinnen eine Welt wachgerufen wird, selbst wenn ebendiese Erinnerung bisweilen nur Fantasie ist. In diesem Sinne ist »Berlin Nordost Blues«, der neue Roman von Andreas Gläser, allerhöchste Literatur.
Abenteuer im Niedriglohnsektor: Schulle, der Erzähler und Held der Geschichte, der im Brotjob mal Pförtner ist, dann auch Seniorenbetreuer und Briefträger, arbeitet irgendwann in der Poststelle einer Zeitung am Ostberliner Franz-Mehring-Platz. Der 1965 geborene Gläser, der 2002 mit dem Schmöker »Der BFC ist schuld am Mauerbau« im Aufbau-Verlag debütierte und als gelernter Tiefbauer vielleicht der letzte noch lebende Arbeiterschriftsteller ist, macht sich gar nicht erst die Mühe, seine Erlebnisse im ehemaligen Zentralorgan irgendwie zu chiffrieren. Während im Blatt selbst heute fast nur noch das Kürzel »nd« verwendet wird, nennt es Gläser aka Schulle beim vollen Namen: »Neues Deutschland«.
Und Schulle fühlt sich wohl im Job: »Meistens spurtete ich im siebenstöckigen Neubau in meinen zwei Räumen im Parterre flott umher, nahm die Wünsche nach Einschreiben entgegen, frankierte die Pakete, bearbeitete die ein- und ausgehende Post und bewegte mich flott an der Frankier- und Kuvertiermaschine. Einmal im Monat versendete ich einige Hundert große und kleine Briefe an die ehemaligen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Ministeriums der (sic!) Staatssicherheit, der bewaffneten Organe und der Zollverwaltung. Heißa! Dieser Arbeitsplatz wäre vor Jahrzehnten nur mein Kampfplatz für den Frieden gewesen, nun hätte ich hier auch einen traumhaften Nebenjob für den Verfassungsschutz herunterreißen können.«
Hat Schulle aber nicht. »Berlin Nordost Blues« ist kein Schlüsselroman, keine Abrechnung. Über die nd-Redakteure weiß Schulle nur zu berichten, dass mehrere schon seit den letzten DDR-Tagen dabei waren, wenn nicht sogar seit 40 Jahren und länger. Schon vor der Wende hatten sie ihre Diskussionen mit den Apparatschiks ausgetragen und galten nun als die Edelfedern des Blattes. »Einst notgedrungen so ziemlich auf Linie getrimmt, hatten sie es nach dem Mauerfall schnell drauf, die Realitäten nicht außer Acht zu lassen.«
Das »Neue Deutschland« war besser als sein Ruf. Leider nur schien es unmöglich, die Zeitung, wie Schulle sagt, »stabil« in der Medienlandschaft zu platzieren. »Gute Linke, böse Linke. Manch jugendlich-liberaler Radiosender nahm das Geld für die Verbreitung eines Werbe-Jingles, er unterließ es aber, das ND in der Presseschau zu erwähnen. Viele Verlage nahmen die Chance wahr, ihre Bücher rezensieren zu lassen, sie zitierten die Zeitung aber nicht auf den Rückseiten ihrer Werke.« Für Schulle jedenfalls ist das Gendern schlimmer als das »SED-Deutsch der alten Bonzen«. Der Auflage habe es nicht sonderlich geholfen: »14 000 Abonnenten, sehr gut – für ein Punkrock-Fanzine.«
Dass sein Arbeitgeber kaputtzugehen droht und er das Elend miterleben würde, ist für Schulle eine neue Erfahrung. Er fühlt sich wohl auf dieser »roten Insel« als Überbleibsel der DDR. Die Sätze, in denen Gläser immer wieder en passant von jenem Land erzählt, gehören zu den besten Stellen in Schulles bisweilen sehr poetischer Arbeitsbiografie, in der das »nd« nur eine Station darstellt. Wofür manche Historiker Hunderte Seiten oder Sendeminuten im Fernsehen brauchen, reicht Andreas Gläser ein einziger Satz: »Die DDR war ein guter Staat für Glücksradgucker, aber kein ganz so guter für Glücksraddreher.«
Schulle aber ist ein Sonntagskind, nur leider im Winter geboren, in Ostberlin, oder wie er sagt, »auf der Seite des Sonnenaufgangs«. In seiner Kindheit im Arbeiterbezirk Prenzlauer Berg habe manches noch an den Krieg erinnert, auch manche Menschen. Dann wieder ein Hammersatz: »Die Krüppel in den dreirädrigen Rollstühlen verschwanden bald aus dem Stadtbild, neue Kriegsinvaliden brachte die DDR nicht hervor.« Der Bau der Mauer sei sicher nicht nur eine Laune von Walter und Erich gewesen, sondern eine Konsequenz der Geschichte. »Großes Pech nur, dass die bis dato radikalste Umwälzung der Herrschaftsverhältnisse auf einen stalinistischen Staat hinauslief.«
All das aber ist schon tausendfach erzählt worden. Neu sind dagegen Gläsers Berichte aus dem Leben eines Mindestlohnsklaven, denn »Berlin Nordost Blues« erzählt vom Klassenkampf nach unten.
Als Schulle in seinem Arbeitsleben noch als Briefzusteller unterwegs war, habe er es gehasst, wenn diese »Wochenendblatt-Typen« ihm den Briefkasten mit Werbung verstopften, sodass er und seine Kollegen in jedem Hausaufgang doppelt so viel Zeit verbringen mussten. »Diese Leute wiederum verstanden unsere Beleidigungen nicht, denn entweder handelte es sich bei ihnen um Fremdsprachler oder um Schwerhörige; auf jeden Fall um demütige Typen, die um ihr schweres Los wussten und den Schwanz einzogen.«
Schulle, der Premiumprolet. Als Briefzusteller habe man eine Liga drüber gespielt, man war »Scheißeschipper mit Diplom« und verdiente anderthalb Riesen auf die Hand. »Doch wenn die Miete abgezogen wurde, war das Guthaben nur noch ein Dreistelliges, von dem am Ende des Monats noch ein Zweistelliges übrig bleiben würde.«
Andreas Gläser hat in seinem Leben Erfahrungen gesammelt, die andere Schriftsteller nur vom Hörensagen kennen. Er weiß, was es mit Menschen macht, wenn sie kein Geld haben, keine Zuversicht, keine Zukunft. Dieses Wissen prägt den »Berlin Nordost Blues«. Ein Roman, der hilft, die Welt mit anderen Augen zu sehen oder wenigstens den Wachschützer an der Uni, die Paketzustellerin von DHL und die Schnorrer vor der Kaufhalle. Als MAE-Kraft im Altersheim (der vom Jobcenter mit einer »Aufwandsentschädigung« von 1,50 Euro vergütet wird, zuzüglich zur Stütze) wird Schulle schließlich selbst zum Objekt der Verachtung: »Die ausgebildeten Pflegeproleten mochten keine ungelernten Lebenskünstler …«
Laut Verlag ist das ein Roman »voll heiterem Klassismus über Alltagshelden, die ihre Kämpfe auf Schicht austragen«. Die Handlung kennt viele Gags, aber nur wenig Solidarität. Ein trauriges Buch, bei dem man immer wieder lachen muss. Ein Lachen aber, das einem zum Ende hin vergeht. Vorsicht, Spoiler!
Mit dem letzten Kapitel hätte Andreas Gläser beim Klagenfurter Bachmann-Wettbewerb antreten müssen. Das Sujet ist auf jeden Fall preisverdächtig. Frage: Was kommt nach dem Tod? Antwort: Schulle. Der hat einen Job beim Patientenservice ergattert. Schulle hat ja gern Umgang mit Menschen. Und eigentlich schieben seine Kollegen und er eine ruhige Kugel, wenn sie die Patienten im Krankenhaus von einer Station zur anderen schieben und zum Röntgen oder zur Physiotherapie. Eigentlich. Wären da nicht die Aufträge mit dem »Silberpfeil«, jenem Transportwagen samt Mulde, der im Keller immer aus einem riesigen Schrank herausgeholt werden muss.
Beim Öffnen der Tür bekommt Schulle jedes Mal einen Blick auf ein halbes Dutzend Verstorbener, die dort, mehr oder weniger in Laken gehüllt, für einige Tage aufgebahrt sind. Bloß nicht erschrecken, wenn so ein Toter den Kopf permanent in die Höhe streckt! Dieser Mensch verstarb im Krankenbett, während das Kopfende hochgestellt war. Im Körper steckt jetzt die Leichenstarre. »Schön, wenn das Fenster schon auf und die Seele raus ist.«
Andreas Gläser: Berlin Nordost Blues. Edition Periplaneta, 214 S., br., 16 €.
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