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Tödliche Zwei-Klassen-Pilgerfahrt
Kritik an der Organisation des Hadsch durch Saudi-Arabien setzt Riads Reformprojekte aufs Spiel
Mehr als 1300 Pilger kamen bei der diesjährigen muslimischen Pilgerfahrt, dem Hadsch, in Mekka ums Leben. Die am vergangenen Donnerstag zu Ende gegangene viertägige Wallfahrt gilt mit 1,8 Millionen Pilgern als weltgrößtes religiöses Zusammentreffen. Das Unglück wirft einen Schatten auf Saudi-Arabiens kühnes Reformprojekt, mit dem Kronprinz Mohammad Bin Salman den Golfstaat bis 2030 zu einer modernen Servicenation und zur Führungsmacht in der arabischen Welt machen will.
Mekka steht im Zentrum dieses Umbaus vom konservativen Ölexporteur zu einer führenden Tourismus-Nation. Vor wenigen Jahren durften Frauen im 40-Millionen-Einwohner-Land Saudi-Arabien weder Auto fahren noch alleine reisen. Nun gelten weibliche Manager als Vorbilder für die zunehmend unzufriedene Jugend, die auch von den Ultrakonservativen umworben wird. Bin Salman hält mit Megaprojekten dagegen. Südlich von Riad entsteht bald der größte Flughafen der Welt, die Zahl der Mekka-Pilger soll innerhalb eines Jahrzehnts um jährlich eine Million steigen, die Wüstensiedlung »The Line« eine neue Form des Zusammenlebens ermöglichen.
Doch der Tod von mindestens 658 ägyptischen und über 200 indonesischen Pilgern hat eine Debatte ausgelöst, die Bin Salmans Megaprojekten gefährlich werden könnte. In den Herkunftsländern der Opfer wird erstmals offen über die Umstände der Reise gesprochen, die alle gläubigen Muslime einmal in ihrem Leben machen sollen, sofern sie es sich leisten können. Forderungen werden laut, Saudi-Arabien die alleinige Kontrolle über die heiligen Stätten des Islam zu entziehen.
Der Reputationsverlust kommt in kleinen Schritten. Ägyptens Premierminister Mustafa Madbuli geht gegen 16 Reiseagenturen vor, die auch Gläubige auf den Weg schickten, die sich das offizielle Pilgerpaket nicht leisten können. Bis zu 15 000 Dollar kostet die fünftägige Pilgerreise für Ägypter oder Tunesier. Bei etwa 83 Prozent der Toten handele es sich um nicht registrierte Pilger, teilte der saudische Gesundheitsminister Fahad Al-Dschaladschel am Sonntagabend mit. »Die unregistrierten Pilger liefen über lange Strecken unter der Sonne ohne Schutz und Pause. Einige von ihnen waren älter und einige andere hatten chronische Krankheiten«, sagte er im saudischen Staatsfernsehen Al-Ekhbariya.
Von den über 49 tunesischen Hitzeopfern waren nur fünf mit offiziellem Pilgervisum eingereist. Die anderen hofften auf das Nachsehen der saudischen Sicherheitskräfte, die an den Stationen der Pilgerreise die Zugangspässe kontrollieren. Mehr als 300 000 Besucher wurden in diesem Jahr aus Mekka ausgewiesen. »Aber wer hartnäckig auf den richtigen Moment wartet, schafft es auch als illegaler Pilger bis an die große Moschee oder auf den Berg der Barmherzigkeit, den Arafat«, berichtet Mohammad Hamza.
Der 35-jährige Tunesier ist gerade aus Mekka zurückgekehrt, hat das Chaos während der über 30-stündigen im Freien stattfindenden Rituale miterlebt. »Es gab zwar ausreichend Ausschilderungen und Sicherheitskräfte. Aber vor allem die vielen mittellosen Pilger bekamen kein Wasser. Sie durften auch nicht in die Kühlzelte oder medizinischen Notfallstationen. Bei über 50 Grad wurde mir schnell klar, dass einige der erschöpften älteren Pilger um mich herum den Hadsch nicht überleben werden.«
Auch in Tunesien wurden aus dem Unglück schnell Konsequenzen gezogen. Am vergangenen Montag war Ibrahim Chaibi, der Minister für religiöse Angelegenheiten, noch von den Behörden in Mekka mit einer Medaille für besondere Verdienste während der Wallfahrt ausgezeichnet worden. Nachdem bekannt geworden war, dass die ohne offizielles Pilger-Visum eingereisten tunesischen Opfer auch keine Hilfe der tunesischen Delegation erhielten, entließ ihn Präsident Kais Saied.
»Bei über 50 Grad wurde mir schnell klar, dass einige der erschöpften älteren Pilger um mich herum den Hadsch nicht überleben werden.«
Mohammad Hamza
Tunesischer Mekka-Pilger
»Die Wirtschaftskrisen in der arabischen Welt zwingen viele Menschen in Schwarzarbeit oder andere Formen der Illegalität«, sagt Mohammad Toumi, ein gerade aus Mekka zurückgekehrter Tunesier. Er hat die Hitzewelle und die organisatorischen Probleme aus nächster Nähe erlebt. Am 60 Meter hohen Arafat-Berg brachen mehrere Betende neben ihm vor Erschöpfung zusammen. »Die politischen Eliten werden immer reicher. Diese Bilder der Ungerechtigkeit aus Mekka zu sehen, sorgt für eine nie dagewesene Welle der Empörung. Jetzt richtet sich diese gegen das derzeit einzige ambitionierte Projekt in der arabischen Welt«, ergänzt Toumi.
Wirtschaftlich bleibt Saudi-Arabien unangefochtener Spitzenreiter. Erstmals wurden in dem größten Wirtschaftsraum am Golf und Nordafrikas im letzten Jahr mehr als eine Trillion Dollar erwirtschaftet. Mohammed Bin Salman setzt die wirtschaftliche Stärke in einer breiten Allianz ein. Als G20-Mitglied bekräftigt er den wöchentlich eintreffenden westlichen Wirtschafts- und Diplomaten-Delegationen eine vertrauensvolle Zusammenarbeit. Aber zusammen mit den Vereinigten Arabischen Emiraten und Ägypten ist Saudi-Arabien seit letztem Jahr auch Mitglied der von China und Russland dominierten Brics-Staatengemeinschaft.
In seinem erstmals in Englisch geführten Interview mit dem konservativen US-TV-Sender Fox News zeichnete der 34-Jährige das Bild eines jungen und dynamischen Landes, das spätestens 2030 als Ausrichter der Fußballweltmeisterschaft ein weltweiter Magnet für Sportler, Wissenschaftler und Tech-Konzerne sein will. Spätestens seit der scharfen westlichen Kritik wegen der Ermordung des Königshaus-Kritikers Dschamal Khashoggi sieht Mohammed Bin Salman Brüssel und Washington als Juniorpartner. Seit der Aussöhnung mit der ideologisch verfeindeten Herrscherfamilie in Katar im Januar 2021 setzt er auf China. Das Ende des seit März 2015 andauernden Einsatzes saudischer Truppen im benachbarten Jemen gegen die irantreuen Huthis gelang durch die Marathon-Diplomatie Pekings, ebenso die Aussöhnung mit Iran.
Sein auf den Globalen Süden ausgeweitetes Bündnissystem half Bin Salman, die von der US-Regierung immer wieder angepriesene Normalisierung der Beziehungen zu Israel an neue Forderungen zu knüpfen: Washington müsse im Gegenzug Riad bindende Sicherheitsgarantien geben und ein saudisches ziviles Nuklearprogramm unterstützen, forderte der Kronprinz.
Er war in der Tat bereit, das jahrzehntelang in der arabischen Welt Undenkbare zu wagen. Wenige Wochen vor dem Angriff der Hamas verkündete Israels Premier Benjamin Netanjahu bei einer Rede vor der UN-Vollversammlung einen baldigen historischen Frieden mit Saudi-Arabien. Auf Fox News erwiderte Bin Salman, die Normalisierung beider Länder werde das weltweit wichtigste Abkommen seit dem Zweiten Weltkrieg werden. Doch schon die Landkarte, die Netanjahu am Rednerpult zeigte, machte klar, dass Bin Salmans Kompromisswillen auf eine harte Probe gestellt werden wird: Von einem palästinensischen Staat war darauf nichts zu sehen.
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