Marwa el-Sherbini in Dresden: Ein Tod, der kein Umdenken bewirkte

Auch 15 Jahre nach dem Mord an der Wissenschaftlerin in Dresden ist Rassismus gegen Musliminnen verbreitet

  • Hendrik Lasch
  • Lesedauer: 4 Min.
Die Forderung, die am Rande des Prozesses gegen Marwa el-Sherbinis Mörder erhoben wurde, ist weiter gültig – auch mit neuem Kanzler.
Die Forderung, die am Rande des Prozesses gegen Marwa el-Sherbinis Mörder erhoben wurde, ist weiter gültig – auch mit neuem Kanzler.

Ein Spielplatz im Stadtteil Johannstadt und das nahe gelegene Landgericht Dresden: Das sind zwei Stationen, die Teilnehmerinnen eines Fachtages am vergangenen Donnerstag in Dresden besuchten. Die Veranstaltung, die vom 2023 gegründeten Bündnis gegen antimuslimischen Rassismus in Sachsen veranstaltet wurde, erinnerte an die aus Ägypten stammende Pharmazeutin Marwa el-Sherbini, für die beide Orte eine tragische Rolle spielten. Auf dem Spielplatz, den sie mit ihrem damals dreijährigen Sohn besuchte, wurde sie im Sommer 2008 von einem 27-Jährigen als »Terroristin« und »Islamistin« beschimpft. Der Mann kam vor Gericht – und erstach in der Berufungsverhandlung am Landgericht am 1. Juli 2009 die als Zeugin geladene Frau. Am Montag jährte sich ihr Tod zum 15. Mal.

Der Mord, für den der Täter später zu lebenslanger Haft verurteilt wurde, sorgte für einen Schock, nicht zuletzt in der sächsischen Justiz. Dass die schwangere 32-Jährige ausgerechnet an einem Ort getötet wurde, an dem ihr eigentlich Gerechtigkeit hätte widerfahren sollen, erschien unvorstellbar. Sachsens Justiz reagierte: zunächst mit Sicherheitsschleusen, die es seither in allen Gerichtsgebäuden im Freistaat gibt, danach auch mit kritischer Selbstreflexion.

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Im Landgericht Dresden wird alljährlich an ihrem Todestag an Marwa el-Sherbini erinnert. Diesmal lud die zuständige Ministerin Katja Meier (Grüne) erstmals zu einem »Gedenktag der sächsischen Justiz«. Bei der Veranstaltung sprach neben Bundesverfassungsrichterin Astrid Wallrabenstein auch Azim Semizoğlu vom Dresdner Verein Haus der sozialen Vielfalt, der einer der Träger des sächsischen Bündnisses ist. Laut Einladung sollte es darum gehen, »wie das Bewusstsein für Rassismus innerhalb der Gesellschaft gestärkt werden kann und welche Rolle gesellschaftliche Institutionen wie die Justiz im Kampf gegen Diskriminierung einnehmen«.

Olga Sperling sagt: Die Justiz ist auf dem Weg, aber noch lange nicht am Ziel. Sperling arbeitet beim Ausländerrat Dresden; ihr erster Arbeitstag dort war ausgerechnet der Todestag el-Sherbinis. Das Verbrechen war für sie Anlass, sich besonders um muslimische Frauen zu kümmern und für sie »geschützte Räume« sowie Orte zu schaffen, »an denen sie Gehör finden«.

Ein solcher Ort ist der Johannstädter Kulturtreff, an dem jetzt der Fachtag stattfand, nur wenige Schritte vom Landgericht entfernt. Dort und in anderen Einrichtungen gibt es mittlerweile viele Projekte, die sich gezielt an diese Gruppe richten, zum Beispiel Fahrrad-, Schwimm-, Computerkurse, aber auch Angebote, die im Umgang mit diskriminierenden Erfahrungen schulen. »Wir wollen, dass die Frauen stärker werden und ihren eigenen Weg gehen«, sagt Sperling. Es gehe um die Teilhabe der Musliminnen und anderen Migrantinnen in allen gesellschaftlichen Bereichen.

»Sachsen sollte eine Melde- und Beratungsstelle einrichten. Es braucht endlich professionelle Strukturen.«

Nicola Eschen
Bündnis gegen antimuslimischen Rassismus

Dafür müsse sich die Gesellschaft freilich auch in allen Bereichen öffnen. Das sei nicht der Fall. Das Verbrechen an Marwa el-Sherbini hat kein Umdenken bewirkt, vielmehr hat der antimuslimische Rassismus in den 15 Jahren seither stetig zugenommen. Das 2023 dagegen ins Leben gerufene und vom Freistaat finanzierte sächsische Bündnis führte noch bis zum 1. Juli eine entsprechende Online-Umfrage und Interviews mit Betroffenen durch, sagt Nicola Eschen von der Soziale Dienste und Jugendhilfe gGmbH, ebenfalls einer von dessen Trägern.

Bei der Erhebung geht es nach Angaben Eschens nicht nur um Straftaten und Vorfälle, die in Polizeistatistiken auftauchen, sondern etwa auch darum, ob die Befragten bestimmte Orte meiden oder Pöbeleien und unflätige Bemerkungen zu ertragen haben. »Für Kopftuchträgerinnen ist das trauriger Alltag«, sagt Eschen. Yusuf Aydinbas vom Haus der sozialen Vielfalt fügt hinzu, es sei eine bittere Ironie, dass ausgerechnet eine Gruppe, die gemäß verbreiteter Stereotype in der deutschen Mehrheitsgesellschaft als besonders unterdrückt gilt, von ebendieser Gesellschaft in solchem Umfang ausgegrenzt und diskriminiert werde.

Das Bündnis will die Ergebnisse seiner Erhebung im Laufe des Sommers vorstellen. Schon jetzt fordert es eine Melde- und Beratungsstelle für antimuslimischen Rassismus beim Freistaat, analog den Stellen, die sich um Antisemitismus kümmern.

Im Bund gibt es mit Ferda Ataman bereits eine Unabhängige Bundesbeauftragte für Antidiskriminierung. Sie war Gast beim Dresdner Fachtag. Nun brauche es auch in Sachsen »endlich professionelle Strukturen«, sagt Eschen. Und es braucht, wie Olga Sperling hinzufügt, dringend ein anderes gesellschaftliches Klima. Wenn jetzt in extrem rechten Kreisen offen über Remigration gesprochen werde, »macht das Angst«. Der antimuslimische Rassismus, dessen Opfer Marwa el-Sherbini wurde, »ist seither sichtbarer geworden«.

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