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Frankreich: »Rassemblement setzt Vormarsch fort«
Der Politologe Jean-Christophe Gallien über das Erfolgsrezept der Ultrarechten
Wie ist Ihrer Meinung nach das Ergebnis des ersten Wahlgangs der vorgezogenen Parlamentswahl zu bewerten?
Dieses Wahlergebnis ist eine fast selbstverständliche Fortsetzung des großen Erfolgs des Rassemblement National (RN) bei der Europawahl vor drei Wochen. Das zeugt davon, dass die rechtsextreme Bewegung nach wie vor auf dem Vormarsch ist und immer neue Kreise von Anhängern und Wählern für sich zu gewinnen vermag. Darin unterscheidet sich RN von den anderen Parteien in Frankreich, die alle nur Rückzugsgefechte führen und bestrebt sind, nicht noch mehr Terrain zu verlieren oder den Verfall früherer Erfolge und die Abwanderung von Anhängern und Wählern aufzuhalten.
Der Politologe Jean-Christophe Gallien ist Professor für Geopolitik und Internationale Beziehungen an der Universität Paris-Sorbonne. Mit ihm sprach für »nd« Ralf Klingsieck.
Wie hat sich in diesem Zusammenhang beim Rassemblement die Basis der Anhänger und Wähler verändert?
RN hat es geschafft, über die traditionelle Basis hinauszukommen. Die bestand früher vor allem aus »geborenen« oder seit langem eingebürgerten Franzosen mit geringem Einkommen und einem relativ niedrigen Bildungsniveau. Diese Menschen fürchten sich vor einer »Überfremdung« durch illegale Ausländer und vor Unsicherheit, für die vor allem die Ausländer verantwortlich gemacht werden. Seit einiger Zeit sind aber auch immer mehr Menschen aus den unteren Mittelschichten und kleine Gewerbetreibende hinzugekommen, die um ihr Auskommen fürchten, und heute findet man hier selbst höhere Angestellte und Intellektuelle, die einen sozialen Abstieg auf sich zukommen sehen. Da angesichts der Inflation die Sorge um die Kaufkraft für die Franzosen heute an die erste Stelle gerückt ist, hat sich RN dem angepasst. Die Rechtsextremen stellen dieses Thema ganz an die Spitze ihrer Losungen und versuchen, es in Dynamik in der Konfrontation mit der Regierung zu verwandeln. Aber wenn dadurch die Fremdenfeindlichkeit etwas weiter nach unten gerückt ist, bedeutet das nicht, dass sie heute keine große Rolle mehr spielt. Sie ist nach wir vor eine der Leitlinien für RN. Genauso schmälern die sozialen Themen, die an Bedeutung gewinnen, nicht die Forderung nach einem starken Staat und nach hartem Durchgreifen für Recht und Ordnung. Die RN-Wähler wollen aber nicht nur eine straffe Führung an der Spitze, sondern auf allen Ebenen des Staatsapparats und des öffentlichen Dienstes, von den Ordnungskräften und der Justiz über das Bildungs- und das Gesundheitswesen bis zum Transport. So wird RN mehr und mehr von einer Partei von Nein-Sagern zu einer regierungsfähigen Partei, die einen repräsentativen Teil der Bevölkerung vertritt.
Hat sich der Aufschwung für RN im Zusammenhang mit der Europawahl und jetzt der Parlamentswahl nicht ganz besonders beschleunigt?
Ja, das hat RN eine besondere Dynamik verliehen. Dem kam entgegen, dass der Wahlkampf für die Parlamentswahl diesmal mit drei Wochen extrem kurz war und eine so konzentrierte Wahlkampagne leichter zu organisieren ist und mit relativ wenig Aufwand recht große Ergebnisse zeigen kann. Hinzu kommt, dass die rechtsextreme Bewegung seit einigen Jahren sehr intensiv und konzentriert mit den Menschen an der Basis arbeitet und auch intern eine große theoretisch-politische und organisatorische Arbeit leistet, was sich jetzt auszahlt. Es hat sich auch bewährt, weniger auf einige Star-Politiker als Zugpferde zu setzen, sondern mehr auf Vertrauen erweckende Politiker vor Ort, die nahe bei den Menschen und ihren Sorgen sind. Bemerkenswert ist auch, wie gut RN seit einiger Zeit bei jungen Menschen ankommt, sodass die Bewegung heute die meisten Erstwähler für sich verbuchen kann, noch vor La France insoumise. Aber auch bei den Rentnern ist RN stark vertreten. Man kann also sagen, dass die Rechtsextremen mit Erfolg Menschen aller Altersgruppen und sozialen Schichten erfassen und damit in Frankreich beispiellos sind.
Welche Rolle kommt dabei dem Parteivorsitzenden Jordan Bardella zu?
Der noch nicht einmal 30 Jahre alte Bardella ist ein Glücksfall für RN. Marine Le Pen hat ihn und sein politisches Talent entdeckt und hat sich seinen Ehrgeiz zunutze gemacht, um ihn aufzubauen und zu formen. Das passt zusammen mit ihrem seit Jahren zu beobachtenden Streben, die dunklen Flecken und Seiten in der Parteigeschichte zu tilgen und RN zu »entdämonisieren«. Bardella, der schon aufgrund seines Alters nicht mehr mit den politisch peinlichen Ausfällen des Parteigründers Jean-Marie Le Pen oder anderer »Altlasten« in Verbindung gebracht werden kann, soll an der Seite von Marine Le Pen die neue Partei repräsentieren. Gemeinsam wollen sie weg vom Bild der Rechtsextremen alter Schule, von ihren grobschlächtigen Parolen und ihrer Aggressivität. Es soll der Eindruck einer seriösen Partei entstehen, der man durchaus die Chance einräumen kann, an die Hebel der Macht zu treten und sich zu bewähren.
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