Linke tastet nach Schmerzpunkten

Nach der Europawahl wird ein inhaltlicher und personeller Neuanfang gesucht

Unklar, wie lange er noch Linke-Vorsitzender ist: Martin Schirdewan
Unklar, wie lange er noch Linke-Vorsitzender ist: Martin Schirdewan

Im Karl-Liebknecht-Haus gibt es derzeit nicht viel zu lachen. In Ermangelung eigener Erfolge freut man sich in der Zentrale der Linkspartei umso mehr über den Wahlsieg des linken Volksfront-Bündnisses in Frankreich. Präsident Macron habe sich mit den vorgezogenen Parlamentswahlen verzockt, allein die linken Parteien hätten das Land vor der Machtergreifung der Rechten bewahrt, sagte Linke-Vorsitzender Martin Schirdewan am Montag nach dem denkwürdigen französischen Wahlwochenende. Die französische Linke habe die Umverteilungsfrage gestellt und sich klar gegen rechts gewandt, so Schirdewan, der dieser Tage als Ko-Vorsitzender der europäischen Linksfraktion bestätigt wurde – neben der französischen Linken Manon Aubry.

Ansonsten war der Linke-Vorstand um Schirdewan und Janine Wissler am Wochenende mit Aufräumarbeiten beschäftigt. Denn die Europawahl mit nur 2,7 Prozent der Stimmen war für Die Linke ein Tiefpunkt. Nun ist Ursachenforschung angesagt, und ihr widmete sich der Vorstand in einer Klausurtagung, denn, wie es in einem Vorstandsbeschluss vom Wochenende heißt: »Unsere Wahlstrategie ist nicht aufgegangen.« Da wird es auch weiterhin viel zu diskutieren geben, denn neben der Wagenknecht-Abspaltung und der sehr erfolgreichen Startphase des BSW muss Die Linke sehr genau auf eigene Defizite schauen.

Schirdewan versuchte am Montag, sie zu umreißen. Der Markenkern »soziale Gerechtigkeit« soll »fokussiert und zugespitzt« werden, sagte er und lieferte ein Beispiel: Im Zusammenhang mit der Diskussion um die Finanzierung des 49-Euro-Tickets erklärte der Linke-Chef, die Fahrkarte dürfe nicht teurer, sondern das Angebot müsse attraktiver gemacht werden. Etwa, indem man es um drei ICE-Fahrten pro Jahr erweitert, was nach Schirdewans Ansicht finanzierbar wäre.

»Die harte Debatte im Vorstand ist mir lieber als Fouls von der Seitenlinie.«

Martin Schirdewan  Linke-Vorsitzender

Zudem müsse Die Linke »bei den großen Themen besser werden«. Gemeint sind Migration sowie Außen- und Sicherheitspolitik. Dies waren Umfragen zufolge die entscheidenden Themen bei der Europawahl, und in beiden Bereichen erkennt der Linke-Vorstand Nachholbedarf. In dem Beschluss vom Wochenende liest man dazu, Die Linke müsse in der Friedenspolitik wieder deutlicher wahrnehmbar werden, aber auch die Frage beantworten, wie Forderungen nach Abrüstung oder Widerstand gegen die Wiedereinführung der Wehrpflicht mit einem gestiegenen Sicherheitsbedürfnis in der Bevölkerung verbunden werden können. In Sachen Zuwanderung müsse Die Linke »in Zukunft deutlicher formulieren, wie eine humane Migrationspolitik als Alternative zur Abschottungspolitik« aussieht. Keinesfalls will man es so machen wie andere, rechts stehende Parteien: »soziale Fragen in Fragen von Migration zu übersetzen«. Das hat auch das BSW ausdrücklich praktiziert.

Das sind Klärungsprozesse, die mehr Zeit brauchen werden als ein paar Wochen. Deshalb soll nach dem Parteitag im Oktober in Halle eine Programmdebatte beginnen, weil sich, so Schirdewan, die Welt seit 2011, als das derzeit gültige Parteiprogramm beschlossen wurde, rasant verändert habe: »Wir müssen uns den Herausforderungen einer krisenhaften globalen Entwicklung stellen.«

Ob diese Programmdebatte dann noch unter Regie der Vorsitzenden Wissler und Schirdewan geführt wird, ist unklar. Schirdewan wollte sich dazu am Montag nicht äußern. Zwar erhob niemand in der Vorstandsklausur Rücktrittsforderungen, wie »nd« erfuhr, aber formuliert ist die Bereitschaft zu einer inhaltlichen, strukturellen und personellen Neuaufstellung. Damit soll sich unter anderem eine Arbeitsgruppe aus Bundesvorstand und Landesvorständen befassen. Die Parteispitze ist sichtlich bemüht, Ruhe in die Debatte zu bringen, weil es nicht nur beim Parteitag, sondern auch bei den vorher stattfindenden Landtagswahlen in Thüringen, Sachsen und Brandenburg um viel geht.

Da findet Schirdewan »schrille Unkenrufe in den Medien« ärgerlich. Auf Nachfrage sprach er von einzelnen Personen, die in der Vergangenheit eine große Rolle in der Partei spielten, die nun aber nicht durch ihre Einwürfe den Fahrplan für die nächsten Monate bestimmen könnten. Gemeint sind offensichtlich Gregor Gysi und Dietmar Bartsch, die dieser Tage in einem Hintergrundgespräch mit Medienvertretern einen Führungswechsel gefordert hatten. Die »harte Debatte am Wochenende im Vorstand« sei ihm da lieber, so Schirdewan, als »solche Fouls von der Seitenlinie«.

Ein anderer Einwurf dürfte ihm ebenfalls nicht sonderlich gefallen, aber auch er gehört zur Auseinandersetzung um die Zukunft der Linken. Michael Brie, viele Jahre lang an maßgeblicher Stelle für die Rosa-Luxemburg-Stiftung tätig, stellte der Linken in einem Interview mit der »Frankfurter Rundschau« ein miserables Zeugnis aus. Die Partei sei in entscheidenden Fragen zutiefst gespalten, zahlreiche Führungskader seien zum BSW abgewandert, übrig bleibe in der Linken »eine Wähler- und Aktivistenschaft, die sich weitgehend aus dem linksakademischen Milieu rekrutiert« und die Bodenhaftung zu weiten Teilen der Bevölkerung verloren habe. Brie hält es für »relativ wahrscheinlich«, dass das BSW »einer der Totengräber der Linken« sei.

Die seinerzeitige Kritik der Linke-Führung, die von Wagenknecht organisierte große Friedensdemo sei nach rechts offen, bezeichnet Brie als »politischen Schwesternmord auf offener Bühne«. Ein Teil des »politischen Offizierskorps der Linken« habe den Bruch mit der Gruppe um Wagenknecht »um jeden Preis« gewollt. Die im Parteiprogramm der Linken enthaltene Forderung nach »offenen Grenzen für alle Menschen« nennt Brie idiotisch. Denn Zuwanderung müsse reguliert, bei Bedarf auch begrenzt werden; zugleich sei mehr globale Solidarität nötig. Bries Fazit: »Die Linke war aber zu feige auszusprechen, dass beides notwendig ist.«

Genau an solchen Schmerzpunkten will Die Linke nun arbeiten, auch in Sachen Parteiprogramm. Dies versäumt zu haben, gilt als eine der entscheidenden Ursachen für die Krise der Partei. Für sie geht es zunächst um die Existenz, nicht um mehr politischen Einfluss. Gefragt, was die französische Linke besser gemacht habe als die deutsche, sagte Schirdewan am Montag unter anderem: Sie hat die Machtfrage gestellt. Das steht freilich bei einem Wahlergebnis von 2,7 Prozent außerhalb jeder Debatte.

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