Der Preis des Wachstums

Der Massentourismus in Spanien sorgt für prekäre Jobs und Wohnraummangel

  • Ralf Streck
  • Lesedauer: 4 Min.
Während einer Demonstration gegen den Massentourismus in Barcelona Anfang Juli
Während einer Demonstration gegen den Massentourismus in Barcelona Anfang Juli

Die spanische Arbeitsministerin Yolanda Díaz frohlockte letzte Woche angesichts neuer Arbeitsmarktdaten: »Die Beschäftigung hat im Juni erneut einen neuen Rekord gebrochen«, erklärte die Vize-Ministerpräsidentin. Díaz, die wegen miserabler Wahlergebnisse gerade vom Posten als Chefin der Linkskoalition Sumar zurückgetreten ist, erklärte, die Sozialversicherung habe 21,4 Millionen Beitragszahler registriert. Das seien 70 000 mehr als im Vormonat.

Diese Entwicklung ist einer guten Konjunktur zu verdanken. Anders als in Deutschland wächst die spanische Wirtschaft. Nach letzten Angaben der Statistikbehörde Eurostat ist das Bruttoinlandsprodukt (BIP) im ersten Quartal dieses Jahres im Vergleich zum Vorjahresquartal um 2,4 Prozent gewachsen. In Deutschland schrumpfte das BIP im Jahresvergleich um 0,2 Prozent.

Spanien wird sogar als »Wachstums‑Star Europas« bezeichnet. Das Land weist nun die geringste offizielle Arbeitslosenquote seit 16 Jahren aus. Die ist erstmals in etwa wieder so hoch wie vor Ausbruch der Finanzkrise 2008. Das sind offiziell aber noch immer 2,6 Millionen Betroffene, und nach Eurostat-Angaben ist es mit 11,7 Prozent der Spitzenwert in der EU. Spanien liegt noch vor Griechenland mit 10,6 (Deutschland 3,3 Prozent). Und es hält mit fast 27 Prozent den Rekord bei der Jugendarbeitslosigkeit.

Das teils positive Bild weist real viele Risse auf. Kenner der Lage, wie der Wirtschaftswissenschaftler Santiago Niño Becerra, sehen massive »strukturelle Probleme«. Die hohe Arbeitslosenquote werde nach Ansicht des Professors an der Universität Ramon Llull in Barcelona nicht unter die Marke von elf Prozent fallen. Sie sei ein chronisches Problem. Er weist darauf hin, dass die Zahl über eine neu von der Regierung eingeführte Vertragsform geschönt ist. Über »unterbrochene Festverträge« ist zwar die Zahl befristeter Arbeitsverträge gesunken, geschätzt bis zu 500 000 Menschen sollen trotz eines solchen Vertrags arbeitslos sein, werden aber nicht in der Statistik geführt.

Auch Gewerkschaften weisen auf ein weiter steigendes Armutsrisiko hin, das scheinbar im Widerspruch zu Rekordzahlen steht. Die Löhne halten schon seit der Finanzkrise nicht mit der Teuerung mit. In 15 Jahren hätten die Haushalte »im Durchschnitt fünf Prozent an Kaufkraft verloren«, rechnet Becerra vor. Dazu komme, was er für besonders dramatisch hält, dass auch die Produktivität sinke.

Ende 2023 lebten schon 26,5 Prozent der Bevölkerung an oder unterhalb der Armutsgrenze, erneut 0,5 Prozentpunkte mehr als im Vorjahr. Deshalb will auch die Autorin Cristina Fallarás in einem Beitrag für die Onlinezeitung Público nicht in den Jubel der Arbeitsministerin einstimmen. Sie weist auf explodierende Mieten hin. Viele sind arm, obwohl sie einen Job haben: »Man kann viele Nachrichten über die Schaffung von Arbeitsplätzen bringen, aber was nützt das, wenn man mit diesem Job nicht einmal das Dach über dem Kopf bezahlen und kaum überleben kann?« Die Mieten seien »in fünf Jahren um 52 Prozent gestiegen«, erklärt wiederum Julen Bollain. »Im Durchschnitt wendet ein Arbeiter heute 67 Prozent des Lohns für Miete auf, 1997 waren es nur 28 Prozent«, rechnet der Ökonom von der Universität Mondragón vor.

Die Lage am Wohnungsmarkt hat nach Ansicht von Becerra vor allem mit einer verfehlten öffentlichen Wohnungsbaupolitik zu tun, die zudem seit Jahrzehnten fast nicht existiere. Explodierende Mieten hängen eng mit dem Tourismusboom zusammen, weshalb in bestimmten Regionen die Bevölkerung längst auf die Barrikaden geht. In Barcelona demonstrierten am vergangenen Samstag nach Angaben der 140 Organisationen, die zum Protest aufriefen, 20 000 Menschen gegen »Massentourismus«. Dieser »ermorde Stadtteile«, trage real zur Verarmung bei, sei klimaschädlich und sorge für prekäre Arbeitsbedingungen.

Jedoch steht hinter dem spanischen Wachstum vor allem der Massentourismus. Aber er stößt nicht nur auf den Widerstand der Bevölkerung, sondern auch beim Wasser- und Ressourcenverbrauch längst an alle Grenzen. 71 Prozent des spanischen Wachstums im Rekordjahr 2023 habe am Tourismus gehangen, rechnet Becerra vor. In dieser schwankungsanfälligen und wenig nachhaltigen Branche finden sich oft schlecht bezahlte und unsichere Jobs und jene Verträge, die im Herbst »unterbrochen« und dann im nächsten Jahr wieder aufgenommen werden.

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