Serie »Simple«: Vom Randgebiet ins Rampenlicht

Die Serie »Simple« wagt Unerhörtes: Sie steckt vier mental beeinträchtigte Spanierinnen in eine WG, wo sie mit sich und den Vorbehalten ringsum leben

  • Jan Freitag
  • Lesedauer: 4 Min.
Marga (Natalia de Molina, l.), Àngels (Coria Castillo, 2.v.l.), Nati (Anna Castillo, 2.v.r.) und Patri (Anna Marchessi, r.)
Marga (Natalia de Molina, l.), Àngels (Coria Castillo, 2.v.l.), Nati (Anna Castillo, 2.v.r.) und Patri (Anna Marchessi, r.)

Das Fernsehen mag bekanntlich feste Regeln für Handlung und Personal seiner Fiktionen. Im ZDF-Melodram zum Beispiel fahren Hauptdarstellerinnen immer drollige Autos, meist pinke Cabrios, die ihre Verehrer, meist zupackende Frauenversteher, im Schadenfall ebenso reparieren wie einsame Herzen. Schließlich haben sie etwas, worüber Charaktere auf dem Oberrang der Besetzungsliste abgesehen von Forrest Gump oft verfügen: körperliche und geistige Stabilität.

Wem beides fehlt, taugt höchstens zur Nebenfigur, deren Sein das Bewusstsein makelloser Kernfiguren verkompliziert. Eigenschaften abseits vom kognitiven Defizit? Fehlanzeige! Am Bildschirm kommt eine Figur wie die 36-jährige Ángels (Coria Castillo) daher ähnlich selten vor wie ihre zwei Cousinen Marga (Natalia de Molina) und Patri (Anna Marchessi) oder deren Schwester Nati (Anna Castillo). Laut Betreuerin Laia alles »Menschen mit funktionaler Diversität«. Im Volksmund einst »geisteskrank« genannt und von der Medizin »mental retardiert«, war ihr Platz lange das dramaturgische Randgebiet.

Zum Glück überlässt das rein weibliche Filmteam die Suche nach Antworten den Protagonistinnen.

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In der spanischen Serie »Simple«, die in Deutschland bei ZDF-Neo läuft, rücken sie nun ins Zentrum einer Tragikomödie mit Meerblick. Nach Cristina Morales’ Bestseller »Lectura Fácil« quartiert Drehbuchautorin Anna R. Costa das ungleiche Quartett in einer Wohngemeinschaft am Strand von Barcelona ein. Ihre Handicaps reichen dabei vom niedrigen IQ der WG-Leiterin Ángels bis zu Natis aggressivem Autismus. Aber keines ist so gravierend, dass es den Betroffenen etwas Unerhörtes verwehren würde: ein selbstbestimmtes Leben.

Unter Aufsicht von Laias kostenbewusster Hilfseinrichtung organisieren sie den Alltag nämlich nahezu alleine. Sie haben Jobs, Freunde, Stress, Freizeit, sogar ihre Periode, Sex und Partner. Während der Kontrollfreak Patri mit dem ähnlich behinderten Enrique (Eloi Costa) zusammen ist, mündet Margas Freiheitsdrang allerdings in einer Form von Promiskuität, die ihrer Entmündigung zuwiderläuft und permanent für Probleme sorgt.

Denn über der fragilen Freiheit hängen gleich zwei Damoklesschwerter: Eins hält der Vermieter, dem die Freiheitsliebe seiner eigensinnigen Kundschaft zu heikel ist. Eins hält der Staat, dem Kontrollverlust offenbar auch in Spanien verdächtig ist. Daraus macht Regisseurin Laura Jou etwas Außergewöhnliches: Fünfmal 35 Minuten lässt sie die Besonderheiten ihrer vier Protagonistinnen frei zwischen handlungsrelevant und nebensächlich flottieren.

Damit stellen sich nicht nur Fragen nach dem Umgang mit gesellschaftlicher Normabweichungen, sondern mehr noch, was das überhaupt sein soll – normal? Weicht die Naivität der lernschwachen WG-Kassenwartin davon nicht weit weniger ab als das Verhalten ihrer Tante, die Ángels Gutgläubigkeit ausnutzt, um deren Bingo-Gewinne einzusacken? Und widerspricht Margas lustgesteuerte Sexualität der gängigen Moral wirklich mehr als eine Sozialamtsmitarbeiterin, die sie deshalb zur Sterilisation drängt?

Zum Glück überlässt das rein weibliche Filmteam die Suche nach Antworten den Protagonistinnen – die bis auf Anna Marchessi als Patri von Darstellerinnen ohne körperlich-geistige Einschränkungen verkörpert werden. So vermeidet »Simple« den falschen Paternalismus, seine Figuren vor sich selber schützen zu wollen und gewährt ihnen gerade dadurch die nötigen Freiräume, zwischen erfrischender Naivität und schmerzhafter Selbsterkenntnis eine fragile, aber herzerfrischende Balance zu finden.

»Ich bin ja leider ein bisschen zurückgeblieben«, sagt Marga nach einer durchfeierten Nacht mit wechselnden Sexualpartnern, »da passieren solche Sachen«. Und wie sie das in der Synchronfassung gleichermaßen fröhlich und traurig zum Ausdruck bringt, klingt zwar ungleich stereotyper nach Behinderung als die Originalfassung. Doch auch auf Deutsch wird deutlich, worum es hier geht: eine parteiische Bestandsaufnahme zivilgesellschaftlicher Integrationsprozesse, die sich auch an der sonnigen Küste Spaniens nach Segregation anfühlen. Im festen Fernsehregelwerk ist das trotz der Kuppelshow »Besonders beliebt«, worin sich behinderte Personen nach US-Vorbild (»The Undatables«) seit 2021 bei Vox daten, dennoch ein Fortschritt.

Seit die ARD mit »Unser Walter« ein 1974 »mongoloides Sorgenkind« zur Serienfigur machte, gibt es zwar mehr Menschen mit funktionaler Diversität; doch als Bobby Brederlows Down Syndrom 25 Jahre später zum Teilaspekt seiner Filme schrumpfte, kamen ganze drei Handicaps zur vollen Bildschirmreife: Rollstühle wie im ZDF-Mehrteiler »Anna«. Tics wie in »Vincent will Meer«. Oder der kleinwüchsige Tyrion in »Game of Thrones«. Alles autonome Männerpersönlichkeiten. Dass »Simple« geistig behinderte Frauen von Objekten zu Subjekten macht, ist da ein Quantensprung. Und nicht nur deshalb: grandioses Fernsehen.

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