Kinder im Straßenverkehr: Im Zickzack zur Riesenschule

Changing Cities mahnt Handeln bei Schulwegsicherheit an

Noch hat der Berliner Senat seine Absichtserklärung, Berlins Schulwege sicherer zu machen, nicht ins Straßenbild übersetzt.
Noch hat der Berliner Senat seine Absichtserklärung, Berlins Schulwege sicherer zu machen, nicht ins Straßenbild übersetzt.

»Alle 19 Minuten ist im vergangenen Jahr in Deutschland ein Kind im Straßenverkehr verletzt oder getötet worden«, sagt Ragnhild Sørensen vom Verkehrswende-Verein Changing Cities. Laut Statistischem Bundesamt verunglückten 2023 rund 27 200 Kinder. Damit sind die Opferzahlen das zweite Jahr in Folge gestiegen. Historische Tiefstände hatte es zuvor 2020 und 2021 gegeben, mit etwas über 22 000 zu Schaden gekommenen Kindern unter 15 Jahren. Für Berlin vermeldete das Statistische Landesamt 2023 knapp 1100 Verunglückte, immerhin drei Kinder Tag für Tag.

Der Handlungsbedarf, den Straßenverkehr sicherer zu machen, ist also weiterhin enorm. Gerade mit sicheren Schulwegen lässt sich gegensteuern und der Senat hat sich im Mobilitätsgesetz auch verpflichtet, hier voranzukommen.

Doch mit dem Beginn der Sommerferien sei nun wieder ein Schuljahr verstrichen, »ohne dass der Senat seine Pflichten – und sein Versprechen – für erhöhte Schulwegsicherheit erfüllt hat. Die Leidtragenden sind die Menschen, die uns am wichtigsten sein sollten: unsere Kinder«, sagt Girina Holland von der Schulstraßenkampagne von Changing Cities.

Der Verkehrswende-Verein beklagt, dass seit Februar 2023 das Konzept für das Mobilitätsmanagement an Schulen und Kitas aussteht. Es soll nicht nur Verkehrsbildung, ein Verkehrssicherheitsprogramm, Öffentlichkeitsarbeit und die Selbstständigkeit der Kinder fördern, sondern auch die Umsetzung einer sicheren Infrastruktur im Schulumfeld gewährleisten. Hinzu kommen mindestens zehn Gefahrenstellen, die pro Jahr und Bezirk beseitigt werden müssen. Doch solange das Konzept nicht vorliege, bleibe es bei »theoretischen Zielformulierungen«.

»Wenn sich fast ein Drittel der Eltern entscheidet, ihre Kinder mit dem Auto zur Schule zu bringen, dann muss offensichtlich etwas nicht sicher sein«, sagt Ragnhild Sørensen zu »nd«. Selbst bei kleinen Maßnahmen ziere sich der Senat. Tempo 30 auf Hauptstraßen werde dann beispielsweise nicht angeordnet, wenn das Gebäude an der Straße liege, der Haupteingang aber in einer Nebenstraße, nennt sie ein Beispiel.

Zwar gebe es für viele Grundschulen Schulwegpläne. »Aber die Gefahren werden doch nicht beseitigt, wenn ich rote Dreiecke in eine Karte male«, sagt Sørensen.

Selbst bei Schulneubauten klappt es nicht unbedingt mit höchsten Verkehrssicherheits-Standards. So wie beim Schulbauprojekt der Superlative an der Allee der Kosmonauten in Lichtenberg. Knapp 1600 Schülerinnen und Schüler sollen ab kommendem Schuljahr von rund 200 Lehrerinnen und Lehrern unterrichtet werden. Der von der landeseigenen Wohnungsbaugesellschaft Howoge errichtete Gebäudekomplex beherbergt auf rund 21 000 Quadratmetern Nutzfläche eine Integrierte Sekundarschule und ein Gymnasium. Die Fläche entspricht einem 20-stöckigen Hochhaus mit 400 Wohnungen. Rekordverdächtig sind auch die Projektkosten von über 150 Millionen Euro.

»Die Gefahren werden doch nicht beseitigt, wenn ich rote Dreiecke in eine Karte male.«

Ragnhild Sørensen Changing Cities

Alles vom Feinsten also. Doch bei der Anbindung an die nahegelegene Straßenbahnhaltestelle wird dann doch wieder improvisiert. Vom Halt Allee der Kosmonauten/Rhinstraße der Linien M8, 18 und 37 muss die Allee in jedem Fall zweimal überquert werden, die parallel liegenden Tramgleise müssen je nach Anreiserichtung ein- oder zweimal gekreuzt werden. In den vergangenen Wochen waren an der Strecke die Bauarbeiten für die zwei neuen Überwege zu beobachten.

Dabei wäre der Platz für einen Fußweg südlich der Gleise vorhanden, der zur Folge hätte, dass die Straße gar nicht und die Straßenbahnstrecke höchstens einmal gekreuzt werden müssten. Doch es fehlt eine Brücke über den Grenzgraben auf der Südseite.

Die Senatsmobilitätsverwaltung bestätigt das Problem auf Anfrage von »nd«. Um die Sicherheit beim Queren der Gleise zu erhöhen, seien sogenannte Z-Übergänge angelegt worden. Geländer zwingen zu Fuß Gehende zu einem Zickzack-Kurs, der den Blick auf ankommende Straßenbahnen erzwingen soll. Außerdem wird für die Tram auf einigen hundert Metern eine Tempobegrenzung angeordnet, eine sogenannte Langsamfahrstelle.

Die Lichtenberger Verkehrsstadträtin Filiz Keküllüoğlu (Grüne) verweist in ihrer Antwort an »nd« zusätzlich darauf, dass in der Umgebung des neuen Schulstandorts »verschiedene Wege ausgebaut oder neu angelegt« werden. Der Weg zur Haltestelle Evangelisches Krankenhaus KEH der Linien M8, 18 und 37 sei saniert und mit einer Gehwegvorstreckung versehen worden. »Es ist davon auszugehen, dass die überwiegende Anzahl der Schüler*innen über diese Tramhaltestelle anreist«, so Keküllüoğlu weiter.

Wer die Situation an schulnahen BVG-Haltestellen kennt, kann sich vorstellen, dass das Fahrpersonal mit eher mulmigen Gefühlen der Eröffnung der Schule nach den Sommerferien entgegenblickt. Und aus betrieblicher Sicht sind die Fahrerinnen und Fahrer über die neue Langsamfahrstelle auch nicht glücklich. Seit Jahren sinkt die Durchschnittsgeschwindigkeit der Straßenbahn wegen mangelnden Vorrangs, nun gehen weitere wertvolle Sekunden verloren.

Doch in ein paar Jahren könnte tatsächlich eine Brücke auf der Südseite der Gleise entstehen. Der landeseigene Radwegeplaner Infravelo plant den Bau im Zuge der Realisierung der »Ost-Route« getauften Radschnellverbindung 9, die vom S-Bahnhof Tiergarten bis zum Endbahnhof Hönow der U5 führen soll. Infravelo rechnet mit der Eröffnung des Planfeststellungsverfahrens zum Ende des Jahres. Baurecht könnte 2026 vorliegen. Angesichts der Berliner Finanznöte ist es fraglich, ob die Realisierung dann zeitnah erfolgen wird und ob es noch zu Reduzierungen im Projektumfang kommt.

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