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Im Schatten der Frankfurter Schule

Im Gegensatz zu Adornos männlichen Zöglingen sind seine Schülerinnen »vergessen« – trotz bedeutender Beiträge zu Theorie und Praxis

  • Thomas Wagner
  • Lesedauer: 7 Min.
Die Kritische Theoretikerin Elisabeth Lenk (1937-2022)
Die Kritische Theoretikerin Elisabeth Lenk (1937-2022)

Mitternacht ist »Nachtstudio«-Zeit. Jedenfalls für Hannah Werbezirk. Die Salzburger Gymnasiastin hat es sich zur Angewohnheit gemacht, ein väterliches Verbot zu unterlaufen und zu später Stunde auf einem Empfangsgerät der Firma Grundig den Stimmen zu lauschen, die mittels Radio Wien den Weg unter ihre Bettdecke finden. Die artikulierte Ausdrucksweise, die ebenso elegante wie tiefschürfende Gedankenführung eines »Nachtstudio«-Gastes hat es ihr besonders angetan. Von einem Vortrag über den französischen Schriftsteller Marcel Proust ist sie so beeindruckt, dass sie das Frankfurter Institut für Sozialforschung per Brief um das Manuskript bittet.

Nach der Matura will Werbezirk es dann ganz genau wissen und zieht in die Main-Metropole, um ihren intellektuellen Helden, der dort als Professor Vorlesungen hält, näher in Augenschein zu nehmen. In grauem Anzug und die Kette einer Taschenuhr am Revers weiß »Wiesengrund« das studentische Publikum mit seinen Ausführungen, Meisterstücken in freier Rede, zu faszinieren. Wie so viele Angehörige der Generation, der später das Etikett »68er« angeheftet werden sollte, erfährt die junge Frau eine intellektuelle Offenbarung.

Allerdings handelt es sich bei ihr nicht um eine reale Person, sondern um eine fiktive: In ihrem 2016 erschienenen und überaus lesenswerten Roman »Wiesengrund« hat Gisela von Wysocki Erfahrungen einfließen lassen, die sie während ihres Philosophiestudiums selbst mit Adorno hat machen dürfen. Sie schildert an einem Fall, wie ein nicht unbeträchtlicher Teil der bürgerlichen Jugend durch nächtliche Radiosendungen auf den heute wohl bekanntesten Vertreter der Kritischen Theorie aufmerksam wurde. Die spätere Schriftstellerin wurde durch den Besuch von Adornos Seminaren zu einer Doktorarbeit über den Wiener Dichter Peter Altenberg angeregt und verfasste hiernach eine Vielzahl von Essays, Hörspielen, Theaterstücken und zwei Romane.

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Sie schrieb für die feministische Zeitschrift »Die Schwarze Botin« und beschäftigte sich intensiv mit Außenseiterinnen in der Literaturgeschichte. Nach dem Tod Adornos im Sommer 1969 gehörte sie zu jenen 33 seiner Schülerinnen und Schüler, die sich in der Frankfurter Rundschau gegen die politische Entschärfung wandten, die sein Denken in ihren Augen in den Nachrufen der bürgerlichen Presse erfuhr. Wie die studentische Linke, so der Tenor des offenen Briefs, habe Adorno bis zuletzt an der marxistischen Erkenntnis festgehalten, dass Befreiung in der kapitalistischen Gesellschaft nur durch die totale Umwälzung der ökonomisch-politischen Struktur realisierbar sei.

Zu den Unterzeichnerinnen gehörten damals auch Regina Schmidt (später: Becker-Schmidt) und Xenia Rajawsky, deren Ende der 60er Jahre am Frankfurter Institut für Sozialforschung verfasste Diplomarbeit über das Arbeitsrecht in der Bundesrepublik in der »Edition Suhrkamp« erschien, einem für studentische Abschlussarbeiten außergewöhnlich prominenten Publikationsort. Sie untersuchte darin das Streikrecht als Ausdruck der gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse. Sie nahm an, dadurch Hinweise zu bekommen, was im revolutionären Kampf möglich war und welche Funktion die Gewerkschaften dabei spielen könnten. Später ging Rajawsky mit dem Sozialphilosophen Oskar Negt nach Hannover, wo sie sich für die damals noch neuen poststrukturalistischen Theorien aus Frankreich zu interessieren begann und die feministische Psychoanalytikerin Luce Irigaray ins Deutsche übersetzte.

Literatur als Befreiung

In Jörg Späters jüngst erschienenen großen Buch »Adornos Erben. Eine Geschichte aus der Bundesrepublik« begegnen uns die drei eben genannten Frauen – von Wysocki, Rajawsky und Schmidt – als jene Schülerinnen Adornos, deren theoretische und politischen Beiträge jenseits kleiner Kreise von Experten und älteren feministischen Aktivistinnen heute leider kaum noch bekannt sind.

Kommen wir also noch einmal auf Regina Schmidt zurück. Nach ihrem Studium ging die Assistentin Adornos in einer empirischen Meinungsstudie der Frage nach, wie die westdeutsche Bevölkerung auf den Adolf-Eichmann-Prozess, die »Spiegel«-Affäre und den baden-württembergischen Metallarbeiterstreik des Jahres 1963 reagierte. Sie schrieb eine Doktorarbeit über »Geschichte und Geschichtsphilosophie im Elitebegriff« und ging 1973 als Professorin an das Seminar für Psychologie nach Hannover, wo sie einen Arbeitskreis für feministische Theorie ins Leben rief und empirische Studien über Arbeiterinnen initiierte. In der von Schmidt geleiteten Forschungsgruppe »Probleme lohnabhängiger Mütter« wurden Frauen mit Fabrikerfahrung und unter zwölfjährigen Kindern nach ihren Erfahrungen im Wechsel zwischen Familie und Beruf befragt.

Statt nur in Jazzkellern zu sitzen, ist es nun wirklich möglich, über Ansatzpunkte für eine sinnvolle sozialistische Praxis nachzudenken.

Adorno-Schlülerin Elisabeth Lenk über den Ausschluss des SDS aus der SPD

Einen eher ideengeschichtlichen Weg, das am Frankfurter Institut für Sozialforschung Gelernte fortzuführen, beschritt hingegen Hella Tiedemann, geborene Bartels, die ebenfalls bei Adorno studiert hatte und 1969 bei dem bekannten Literaturwissenschaftler Peter Szondi in Berlin promovierte. Gemeinsam mit ihrem Mann Rolf arbeitete sie zunächst an der Walter-Benjamin-Edition und kümmerte sich als außerplanmäßige Professorin schließlich um den akademischen Nachwuchs. Ihr selbst formulierter Anspruch, so heißt es bei Später, bestand darin, »so viele Studenten wie möglich für den Kulturbetrieb zu verderben.«

Das wäre sicher ganz in Adornos Sinn gewesen. Dass der Gelehrte – bei aller nach außen gezeigten professoralen Bürgerlichkeit – eine Künstlernatur mit anarchistischen Zügen aufwies, zeigt sich an der Beziehung zu seiner Lieblingsschülerin Elisabeth Lenk. Die aus einer protestantischen Pastorenfamilie stammende und in Kassel aufgewachsene Aktivistin des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes (SDS) trat auf dessen XVII. Delegiertenkonferenz im Oktober 1962 mit einem Vortrag zur sozialistischen Theorie hervor, in dem sie den Ausschluss der Studierendenvereinigung aus der SPD als Befreiung begrüßte: Statt nur in Jazzkellern zu sitzen, sei es nun wirklich möglich, über Ansatzpunkte für eine sinnvolle sozialistische Praxis nachzudenken. Sie kümmerte sich damals um Deserteure des Algerienkriegs und erhielt daraufhin aus sozialistischen Kreisen eine Einladung nach Paris, die sie gerne annahm, um Abstand zu ihrem Doktorvater Adorno zu gewinnen, der damals mächtig in sie verliebt war.

In Paris lernte Lenk den Surrealisten Andrè Breton kennen, sie unterrichtete auf einer Lektorinnenstelle in Nanterre und beteiligte sich im Mai 1968 an der Besetzung des Quartier Latin. Ihre in Frankreich wachsende Begeisterung für die surrealistische Literatur führte aber auch zu einer erneuten Nähe zwischen ihr und Adorno. Für diesen war die Beschäftigung mit dieser Literatur eine willkommene Möglichkeit, den Zwängen zu entfliehen, die das begriffliche Denken mit sich brachte. Nach ihrer Promotion zog Lenk nach Berlin, wo sie Peter Szondis Assistentin am Seminar für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft an der Freien Universität wurde. 1983 veröffentlichte sie ihr Buch »Die unbewusste Gesellschaft«. Eine wichtige Förderin hatte Lenk zuvor in der Gießener Soziologieprofessorin Helge Pross gefunden, einer ehemaligen Mitarbeiterin des Instituts für Sozialforschung. Pross beschäftigte Lenk als Assistentin und akzeptierte deren Arbeit über den Surrealismus nach Adornos überraschendem Tod als kunstsoziologische Dissertation.

Von Adorno zu Süssmuth

Pross war schon 27 Jahre alt und eine promovierte Wissenschaftlerin, als sie 1954 aus Heidelberg nach Frankfurt kam und schon im Jahr darauf mit einer Pionierarbeit über »Die deutsche akademische Emigration nach den Vereinigten Staaten 1933–1941« von sich Reden machte. Am Institut beteiligte sie sich an der Lehrerausbildung und befasste sich mit Aspekten der geschlechtsspezifischen Sozialisation sowie der Benachteiligung von Mädchen im Bildungssystem. Nach rund zehn Jahren in Frankfurt erhielt sie einen Ruf an die Universität Gießen, an die sie Adorno als ersten auswärtigen Gast einlud.

In ihrer 1971 veröffentlichten Studie über die »Manager des Kapitalismus« interessierte sich Pross für die Frage, ob und wie demokratisch die leitenden Angestellten in Großunternehmen eingestellt sind. Sie kam zu der Überzeugung, dass die von den Universitäten ausgegangenen demokratischen Impulse auch in den kapitalistischen Industriebetrieben Einzug halten würden, und zwar aus purem Eigeninteresse der an einer effizienten Produktion und der Vermeidung revolutionärer Situationen interessierten Firmeninhaber. Pross wurde gefragte Rednerin bei Unternehmen und Wirtschaftsverbänden. Sie schrieb Kolumnen für die damals populäre Zeitschrift »Brigitte« und absolvierte zahlreiche Fernsehauftritte.

Die Pionierin der Geschlechterforschung nahm zunehmend sozialliberale Positionen ein und gab 1982 gemeinsam mit den späteren christdemokratischen Bundesfamilienministerinnen Rita Süssmuth und Ursula Lehr ein Buch über Familie und Frauenemanzipation heraus. Man kann dies als Verwässerung ursprünglich radikaler emanzipatorische Ideen sehen. Ebenso wahr scheint mir aber die rückblickende Deutung eines männlichen Adorno-Schülers zu sein. Gefragt, was denn von 1968 übrig geblieben sei, antwortete Jürgen Habermas laut einer weit verbreiteten Anekdote vor ein paar Jahren: Rita Süssmuth.

Thomas Wagner erzählt in seinem im kommenden Frühjahr erscheinenden neuen Buch vor dem Hintergrund der deutschen Teilung vom Aufeinandertreffen zweier exponierter intellektueller Widersacher in der postfaschistischen Bundesrepublik – der Arbeitstitel: »Adorno, Gehlen und die großen Jahre der Soziologie«.

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