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Soziale Kälte bis zum Gefrierpunkt
Der US-Supreme Court erklärte jüngst die Kriminalisierung von Wohnungslosigkeit für verfassungsgemäß. Ist das faschistoid?
Die majestätische Gleichheit vor dem Gesetz verbietet es Reichen wie Armen, unter den Brücken zu schlafen, Brot zu stehlen und auf den Straßen zu betteln.» Dies schrieb der französische Schriftsteller Anatole France im Jahr 1919 – angeblich «ironisch» (Spektrum.de), tatsächlich aber keineswegs so spöttisch zur Wirklichkeit sich verhaltend wie die Ironie. Vielmehr ist es die Satire, mit deren Hilfe hier ein gesellschaftlicher Missstand denunziert wird; ein Missstand, der zweifellos auf das Scheitern der Französischen Revolution an der Machtergreifung des Bürgertums zurückzuführen ist. Heute ist der France’sche Aphorismus häufiger in seiner Umkehrung bekannt: Das Gesetz der Gleichheit erlaubt es Armen wie Reichen, unter den Brücken zu schlafen. Dies kann am liberalisierten Umgang mit der Verwaltung der sozialen Härten liegen, die im Zuge von ’68 kurzfristig – als Ausnahme, nicht als Regel – die Politik einiger Staaten in den Metropolen bestimmte. Beiden Auslegungen ist jedenfalls gemeinsam, dass sie auf ein wirkliches Grundprinzip des bürgerlichen Rechts verweisen, welches seinen Klassencharakter gerade in der Gleichbehandlung aller Staatsbürger*innen erhält, weil zugleich das Privateigentum geschützt ist.
Wann wird Herrschaft faschistisch?
Dieses bürgerliche Grundprinzip wurde jüngst ausgerechnet vom Obersten Gericht der USA infrage gestellt – und zwar von rechts, in der wichtigsten Entscheidung über den Umgang mit wohnungslosen Menschen seit Jahrzehnten. Deren Inhalt beschreibt das «National Homelessness Law Center», eine Interessenvertretung der Rechte von Wohnungslosen, folgendermaßen: «In einem zutiefst enttäuschenden Urteil hat der Oberste Gerichtshof der USA heute entschieden, dass die US-Verfassung Obdachlose nicht vor grausamer und ungewöhnlicher Bestrafung schützt, selbst wenn sie keine andere Wahl haben, als in der Öffentlichkeit zu schlafen und dabei Dinge wie Decken oder Kissen zu benutzen.»
Ausgangspunkt dieses Gipfels an Menschenfeindlichkeit bildete ein Gesetzesentwurf der Stadt Grants Pass im Bundesstaat Oregon, der vorsieht, wohnungslose Menschen bei Strafandrohung schlicht der Stadt zu verweisen. Die Entscheidung von sechs der insgesamt acht auf Lebenszeit berufenen Obersten Richter*innen ist allerdings nicht bloß menschenfeindlich, sondern ein veritabler Schritt in Richtung Faschismus. Warum? Weil hier eine bestimmte Gruppe von Staatsbürger*innen für ihre bloße Existenz kriminalisiert und verfolgt wird, auf der Basis der für sie selbst unveränderlichen Bedingung, sich keinen Wohnraum leisten zu können. Und was passiert mit Menschen, die einer bestimmten sozialen Herrschaftsordnung zufolge schlicht nicht existieren dürfen? Während Zwangsbehandlung und Inhaftierung von sozio-ökonomisch Schwachen schon heute an der Tagesordnung sind, braucht es angesichts solcher Rechtsentwicklungen nicht viel Fantasie, um am Horizont veritable Konzentrationslager zu wähnen.
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Der Frontalangriff der Herrschenden auf die Ärmsten der Armen erfolgt nicht zufällig in einer Zeit, in der Wohnungslosigkeit massiv zunimmt. «Wohnungslosigkeit in den USA erreicht Rekordstand», titelt die Online-Zeitschrift «Public Health Newswire» im Februar dieses Jahres. Allein von 2022 bis 2023 sei ein Anstieg um 12 Prozent zu verzeichnen. Zur finsteren Lage in Deutschland informiert etwa die Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe. Hierzulande stieg demnach die Jahresgesamtzahl der wohnungslosen Personen zwischen 2021 und 2022 – dem aktuellen Hochrechnungszeitraum – um sage und schreibe 58 Prozent; die Entwicklungen auf dem Wohnungsmarkt deuten darauf, dass sich die Situation seit 2022 noch weiter verschärft hat.
Der explosionsartige Anstieg von Wohnungslosigkeit korreliert nicht nur in den USA mit der Verschärfung der Bedingungen für drogenabhängige Menschen. Während selbstverständlich nicht alle wohnungslosen Menschen auch Drogen konsumieren, gibt es doch große Überschneidungen zwischen beiden Personengruppen – ob es sich nun um Selbstmedikation gegen Trauma handelt oder weil die Lebensbedingungen auf der Straße ohne Rausch kaum zu ertragen sind. So teilte der Bundesverband für Akzeptierende Drogenarbeit und humane Drogenpolitik im Mai dieses Jahres mit: «2227 erfasste Drogentote: Ein absoluter Höchststand in Deutschland.»
Die grundsätzliche Kriminalisierung von Wohnungslosigkeit wird hierzulande derzeit (noch) nicht diskutiert, aber die Räumung von Wohnungslosen-Camps ist längst gängige Praxis. Während sich SPD, CDU & Co für die Verdrängung von unliebsamen Personen aus den Innenstädten auf Polizei und kapitalistischen Wohnungsmarkt verlassen können, nimmt die AfD deutsche Wohnungslose für rassistische Propaganda in Dienst. Die Berliner Obdachlosenhilfe fasst die zynische Pseudo-Solidarisierung der Faschisten mit den sozial Abgehängten folgendermaßen zusammen: «In Wahrheit macht die AfD knallharte Klientelpolitik für Besserverdiener*innen und die Wirtschaft. Sie fordert den Rückzug des Sozialstaats und will auf breiter Front deregulieren. Mehr Wettbewerb und eine geringere Staatsquote kommen allerdings in erster Linie Großverdiener*innen zugute. Unsere Gäste profitieren von dieser Wirtschaftspolitik nicht im Geringsten. Das Gegenteil ist der Fall: In Berlin fällt die AfD mit Forderungen auf, obdachlose Menschen aus dem öffentlichen Raum zu vertreiben oder sie abzuschieben, wenn sie keinen deutschen Pass haben.»
Hergestelltes Elend
Die bürgerlichen Staaten, so auch der deutsche, verwalten das stetig zunehmende Elend, welches ihre Produktionsweise zwangsläufig hervorbringt, in der Praxis mit stetig zunehmender Repression. Flankiert wird diese staatliche Gewalt allerdings von hochtrabenden Plänen zur immanenten «Lösung» des Problems: dazu gehört etwa das Programm «SuN – Schutz und Neustart für Menschen ohne Obdach» oder der «Nationale Aktionsplan Wohnungslosigkeit und Wohnungslosenberichterstattung». Bezüglich Letzterem steht auf der Website der Bundesregierung: «Die Bundesregierung verfolgt das Ziel, die Obdach- und Wohnungslosigkeit in Deutschland bis 2030 zu überwinden. Dies wird nur gelingen, wenn Bund, Länder und Kommunen partnerschaftlich mit allen Akteuren aus Zivilgesellschaft, Wirtschaft und Wissenschaft zusammenarbeiten.»
Wer auch nur oberflächlich mit der kapitalistischen Gesellschaft im Allgemeinen und dem Wohnungsmarkt im Besonderen zu tun hat (also eigentlich jede*r), kann wissen, dass es sich bei solchen Programmen um nichts als Propaganda handelt. Nach wirklichen Erklärungen für die Misere sucht man dennoch häufig vergeblich – auch auf der Linken. Beispielhaft hilflos klingt es etwa, wenn das Homelessness Law Center erklärt, die USA seien doch «das reichste Land der Welt. Wir können es uns leisten, dafür zu sorgen, dass jeder ein Dach über dem Kopf, ein warmes Bett und eine verschließbare Tür hat.» Dabei ist es gerade der kapitalistische Reichtum, der diese paradoxe Situation hervorbringt. Wer daran etwas ändern will, muss für Gleichheit ohne Eigentum kämpfen – und würde damit die bestehende bürgerliche Ordnung ebenso meinen wie die anscheinend heraufziehende faschistische.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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