Ein Leben lässt sich nicht verschwenden

Jürgen Teipel, Autor von »Verschwende Deine Jugend«, erzählt in »Aber ich kann fliegen« die Geschichte seines Lebens

  • Luca Glenzer
  • Lesedauer: 4 Min.
Früher war die Musik besser und der Schlaf tiefer. Nur fliegen konnte man noch nicht.
Früher war die Musik besser und der Schlaf tiefer. Nur fliegen konnte man noch nicht.

Es passiert nicht oft, dass man in Deutschland einen Bestseller landet mit einem Buch, das in unsanierten, stinkenden und höllisch lauten Punkkellern der Republik spielt. Noch dazu erzählt als sperrige Oral History, die keinen linearen Erzählstrang verfolgt. Jürgen Teipel gelang mit seinem »Doku-Roman« genannten Buch »Verschwende Deine Jugend« vor gut 20 Jahren genau das. Es ging um die kurze Hochzeit des bundesdeutschen Punks und Postpunks von Ende der 70er Jahre bis zur »Neuen Deutschen Welle« Anfang der 80er. Manche sagen, er habe damals ein Punk-Revival ausgelöst. Ob das stimmt, lässt sich schwer verifizieren. Ein Bestseller und Kultbuch ist es heute allemal.

Kürzlich hat Teipel mit »Aber ich kann fliegen« einen neuen, autofiktionalen Roman vorgelegt. Wer ihn bisher bloß als Musikjournalisten kannte, wird sich vermutlich verwundert die Augen reiben. Denn der nihilistische »Zurück zum Beton«-Spirit vergangener Tage ist darin verflogen. Doch hätte er ihn beibehalten, würde er vielleicht gar nicht mehr leben. Denn Teipel ist mittlerweile 63 Jahre alt. Eine Jugend lässt sich verschwenden, ein Leben auf Dauer aber nicht.

Statt der Geschichten von andereren Leuten erzählt Teipel in »Aber ich kann fliegen« nun erstmals seine eigene. Anders als »Verschwende Deine Jugend« ist es ein leises, mitunter tieftrauriges, zugleich aber hoffnungsvolles Buch geworden. Im Zentrum stehen dabei Stationen seines Lebens, die für Außenstehende zuweilen beiläufigen Charakter haben mögen, Teipels Leben aber entscheidend geformt haben. So erzählt er von Demütigungen, seinem schon früh deformierten Selbstbewusstsein in der bayerischen Provinz, das sich nicht zuletzt auf die vielfach geschilderten Auseinandersetzungen mit seinem tyrannischen Vater zurückführen lässt, seiner Unfähigkeit zu lieben, aber auch von zwischenmenschlichen Heilungsversuchen, therapeutischen Irrwegen und gescheiterter sowie geglückter Liebe.

Wie ein roter Faden zieht sich dabei seine Vater-Beziehung durch das Buch. »Du bist nicht mehr mein Sohn«, ist ein Satz, den er als Kind wiederholt zu hören bekommt. An anderer Stelle schildert er eine nächtliche Autofahrt, in der der Vater plötzlich vor einem Kinderheim anhält und sagt: »Wenn du so weitermachst, kommst du da rein.« Dieser sadistische Drang, seinen Sohn wahlweise bloßzustellen, zu blamieren oder einzuschüchtern, erweist sich später als nur schwer zu kompensierende emotionale Hypothek für Teipel, die es ihm für viele Jahre verunmöglicht, sich Menschen gegenüber zu öffnen und Vertrauen aufzubauen. Die minutiöse Auseinandersetzung und enge Verzahnung von gegenwärtigen Gefühlswelten und Rückblenden lässt auf ein hohes Maß an psychoanalytischer Feinfühligkeit schließen.

Die insgesamt 13 Kapitel des Buches gleichen dabei fein komponierten Miniaturen. In einen unmittelbaren erzählerischen Zusammenhang werden sie dabei nur selten gesetzt, doch ist das überhaupt kein Manko, im Gegenteil: Denn nebeneinander koexistierend, gelingt es Teipel durch die einzelnen Abschnitte des Buches hinweg über weite Strecken grandios, eine berührende Atmosphäre zu erzeugen, die gerade deshalb zu fesseln vermag, weil sie auf moralisierende Dualismen verzichtet. Es gibt keine Helden und keine Schurken in Teipels Geschichte. Auch der tyrannische Vater lässt schließlich seine Hüllen fallen und entpuppt sich – gezeichnet von Altersschwäche und Krankheit – als emotional bedürftige Figur. Dass Teipel diese Ambivalenzen nicht nur zulässt, sondern geradezu forciert, ist ein literarischer Glücksgriff.

Am Ende der Geschichte erfahren die tiefsitzenden Verletzungen des Erzählers dann Linderung durch vermeintliche Banalitäten: Eine Biene, die er vor dem Ertrinken rettet. Eine Katze, deren Versuch, Körperkontakt aufzunehmen, er nicht mehr ausweicht. Und eine alte Frau, die kranke Wildvögel heilt, und die er regelmäßig zu besuchen beginnt. Teipels 20-jähriges Punk-Ich hätte all das womöglich mit einem trockenen »Du scheiß Hippie!« quittiert. Aber das ist eine andere Geschichte. Was zählt, ist, dass Teipel schließlich allen Zumutungen des Lebens zum Trotz fliegen kann. Dass er es vermag, seine Leser*innenschaft auf dem beschwerlichen Weg in die Lüfte mitzunehmen, zeugt von seiner großen Erzählkunst.

Jürgen Teipel: Aber ich kann fliegen. Schöffling, 224 S., geb., 24 €.

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