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- Altersarmut in Berlin
Nicht mal ’ne Handvoll Kirschen
Altersarmut in Berlin: In keinem anderen Bundesland arbeiten so viele Menschen noch im Rentenalter
Zehn Senior*innen sitzen am Kaffeetisch und plaudern. Der Raum im Erdgeschoss ist lichtdurchflutet, die großen Fenster geben den Blick frei auf die Kadiner und die Hildegard-Jadamowitz-Straße in Friedrichshain. Die meisten der Senior*innen, die hier in der Begegnungsstätte »Lebensfreude« am Donnerstagnachmittag zusammengekommen sind, sind weiblich, wohnen in Ostberlin und haben eine DDR-Biografie.
»Ich bin Rentnerin und kann mir nicht mal ’ne Handvoll Kirschen kaufen«, sagt eine der Seniorinnen zu »nd«. 11,50 Euro hätte sie für einen Kilogramm zahlen müssen, was sie sich mit der niedrigen Rente nicht leisten könne. Mehr als die Kirschen kosteten die Rentnerin die Spritzen, die sie brauche, um Schmerzen im Knie zu lindern. »Ich hatte einen stehenden Beruf, jetzt hab ich Probleme mit dem Knie«, sagt sie. 65 Euro für jede der fünf Spritzen habe sie zahlen müssen, die Krankenkasse habe nichts übernommen. »Das ist dann schon immer ein Loch im Geldbeutel. Über 300 Euro ist nicht wenig.« Derzeit hofft sie, dass sie nicht noch weitere, im Zweifelsfall noch teurere Spritzen braucht.
Die Friedrichshainer hat 45 Jahre lang als Friseurin gearbeitet. »Ich hab mit 15 angefangen mit der Lehre, dann hab ich ein Kind bekommen und nicht voll gearbeitet, deshalb kriege ich jetzt so wenig Rente«, sagt die 80-Jährige, die mit 60 aus dem Beruf gegangen ist, weil damals ihr Mann noch lebte und das deshalb finanziell gut möglich war. Als Friseurin habe sie immer für einen ziemlich geringen Lohn gearbeitet, was sich nun auch in ihrer geringen Rente widerspiegele.
Damit ist die 80-Jährige nicht allein. Denn Altersarmut betreffe vor allem jene, die für niedrige Löhne und in prekären Beschäftigungsverhältnissen arbeiten mussten, erklärt Taylan Kurt, sozialpolitischer Sprecher der Grünen-Fraktion des Berliner Abgeordnetenhauses. Frauen trifft es dabei besonders, weil sie eine »brüchige Erwerbsbiografie« haben, etwa durch Kindererziehung und die Pflege von Angehörigen, so Kurt. Das liege auch daran, dass Kita-Plätze schwer zu finden und Pflegeplätze in stationären Einrichtungen für viele nicht zu bezahlen sind. »Der Sozialstaat lässt all jene im Stich, die es schon immer schwer hatten, über die Runden zu kommen.«
»Die Grundrente funktioniert nicht.«
Taylan Kurt (Grüne)
Berliner Abgeordnetenhaus
Neben ihrer niedrigen Rente wurde der 80-Jährigen auch der Antrag auf Wohngeld abgelehnt, weil die 70-Quadratmeter-Wohnung nach dem Tod ihres Mannes zu groß für sie allein sei, sagt die Seniorin. Sie solle mit 50 Quadratmetern auskommen, habe ihr das Wohnamt mitgeteilt. »Aber wenn ich die jungen Leute frage, die in den 50-Quadratmeter-Wohnungen leben, dann zahlen die mindestens genauso viel wie ich«, sagt sie. Als ihr Mann noch lebte, hätten die beiden Wohngeld erhalten. Nun führt die Witwenrente, die sie erhält, auch noch dazu, dass ihr Antrag auf Grundrente abgelehnt wurde.
»Die Grundrente funktioniert nicht«, sagt Taylan Kurt von den Grünen. Aus der Senatsantwort auf eine Schriftliche Anfrage des Abgeordneten zum Thema Altersarmut geht hervor, dass knapp 28 000 Berliner*innen ihre Rente durch die Grundrente aufstocken; im Schnitt erhalten sie 90 Euro obendrauf. »Das ist doch ein Witz, das sind drei Euro am Tag«, sagt Kurt.
Die Grundrente müsse dringend erhöht und reformiert werden, sodass mehr Menschen sie beziehen können, so der Sozialpolitiker. Denn die Zahl der Menschen, die Grundsicherung im Alter oder bei Erwerbsminderung beziehen, ist mehr als dreimal so hoch wie die Zahl derer, die Grundrente erhalten.
Die Grundsicherung wird, so wie Sozialhilfe, vom Sozialamt zur Existenzsicherung an Menschen mit geringem Einkommen ausgezahlt. Die Grundrente wurde eingeführt, damit Menschen, die viele Jahre lang für niedrige Löhne erwerbstätig waren, Kinder erzogen oder Angehörige gepflegt haben und deshalb eine geringe Rente erhalten, diese auf ein auskömmliches Niveau aufstocken können. Aus den Daten der Rentenversicherung, die in der Senatsantwort enthalten sind, geht hervor, dass in Westberlin Frauen im Durchschnitt 990 Euro Rente erhalten, im Osten der Stadt sind es 1320 Euro. Bei den Männern sind es 1221 Euro im Westen und 1470 Euro im Osten. »Bei den steigenden Mieten in Berlin und den Lebensmittelpreisen kommst du mit 990 Euro nicht über die Runden«, sagt Taylan Kurt.
Indikator für Altersarmut ist üblicherweise die Anzahl von Grundsicherungs-Beziehenden, sagt Kurt. Stand 31. März 2024 sind das in der Hauptstadt laut Sozialstatistik des Landes Berlin 56 608 Menschen im Rentenalter und 39 437 Menschen mit voller Erwerbsminderung. Die Zahl der Grundsicherungsempfänger*innen stieg in Berlin in den vergangenen Jahren kontinuierlich an. Grünen-Politiker Kurt vermutet, dass die tatsächliche Anzahl an armen Alten deutlich höher liegt: »Wir wissen, dass bei älteren Menschen die Scham sehr groß ist, Grundsicherung in Anspruch zu nehmen. Der Gang zum Sozialamt ist entwürdigend«, erklärt er.
Abgesehen davon sind die Berliner Sozialämter überlastet; laut Kurt stünden morgens zum Teil 50 bis 100 Menschen vor der Tür. »Anträge auf Grundsicherung müssen schneller bearbeitet werden.« Kurt schlägt vor, die Grundsicherung an die Rentenversicherung anzudocken, damit dort Vorgänge gebündelt werden können.
Die Techniker-Krankenkasse (TK) hat außerdem durch eine Auswertung bei ihren Versicherten im Jahr 2023 herausgefunden, dass in Berlin im Bundesvergleich überdurchschnittlich viele Menschen noch nach Eintritt ins Rentenalter einer Erwerbsarbeit nachgehen. Deutschlandweit waren 11,6 Prozent im Alter von 67 Jahren noch erwerbstätig, in Berlin waren es 14,6 Prozent. »Damit war der Anteil Berufstätiger mit 67 in Berlin von allen Bundesländern am höchsten«, heißt es im TK-Report.
Gründe für Erwerbstätigkeit im Rentenalter gebe es einige, sagt die Krankenkasse, aber nach eigener Auswertung habe man keine Einflussfaktoren ermitteln können, die die regionalen Unterschiede begründen könnten. Die TK ermittelte aber, dass Menschen, die kaum Krankheitstage haben, wahrscheinlicher mit 67 noch arbeiteten als Menschen, die besonders viele Krankheitstage haben. Deshalb rät die Krankenkasse den Arbeitgeber*innen zu Investitionen in den Gesundheitsschutz der Angestellten, wenn sie Fachkräfte so lange wie möglich halten wollen. »Wer in die Gesundheit der Mitarbeitenden investiert, investiert letztlich auch in die Zukunft des eigenen Unternehmens«, so Susanne Hertzer, Leiterin der TK in Berlin und Brandenburg, in einer Pressemitteilung.
Neben der Gesundheit sind aber auch ökonomische Verhältnisse relevant, wie die TK in ihrem Bericht schreibt: »Je höher das Gehalt in einer Branche, desto niedriger liegt der Anteil der Berufstätigen mit 67.« Auf »nd«-Anfrage heißt es von der Krankenkasse, dass man die unterschiedlichen Einflussfaktoren nicht gewichten könne, weil die Gründe für eine Erwerbstätigkeit im Rentenalter samt der regionalen Unterschiede nicht eindeutig zu klären seien. »Ob Beschäftigte vorzeitig in Rente gehen oder sogar über das Renteneintrittsalter hinaus arbeiten, ist eine höchst individuelle Entscheidung«, äußert TK-Pressereferentin Bettina Irin gegenüber »nd«.
Grünen-Politiker Taylan Kurt hält Armut im Alter für den ausschlaggebenden Punkt, weshalb in Berlin so viele Menschen noch nach Erreichen des Renteneintrittsalters einer Erwerbsarbeit nachgehen. »Weil der Sozialstaat versagt, müssen Leute noch mit über 67 arbeiten gehen«, sagt er. Durch die Kombination aus niedrigen Renten und Fachkräftemangel befürchtet er, dass in Zukunft noch mehr Menschen auch im hohen Alter erwerbstätig sein werden. »Ich will nicht, dass in Berlin die 90-Jährige an der Supermarkt-Kasse sitzt.« Es gebe zwar durchaus auch Menschen, die freiwillig auch nach dem Renteneintrittsalter noch in ihrem Beruf bleiben. »Aber die meisten Menschen arbeiten, weil sie ihr Brot verdienen müssen.«
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