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Ulrich Schneider: »Kompromisse sind Sache des Parlaments«

Nach 25 Jahren als Geschäftsführer des Paritätischen verlässt Ulrich Schneider den Wohlfahrtsverband – und zieht Bilanz.

Die Selbsthilfebewegung im Gesundheitsbereich, Frauenprojekte der 80er Jahre, Arbeitsloseninitiativen und neuerdings die Klimabewegung – in seiner Zeit beim Paritätischen hat Ulrich Schneider (Mitte) viele Initiativen begleitet.
Die Selbsthilfebewegung im Gesundheitsbereich, Frauenprojekte der 80er Jahre, Arbeitsloseninitiativen und neuerdings die Klimabewegung – in seiner Zeit beim Paritätischen hat Ulrich Schneider (Mitte) viele Initiativen begleitet.

Am 9. November 1989 veröffentlichten Sie Ihren ersten Armutsbericht. Den Paritätischen verlassen Sie zum 100. Jubiläum des Verbands. Sind diese einschlägigen Daten Absicht oder Zufall?

Das sind Zufälle. Weder den Mauerfall, das Gründungsdatum des Paritätischen noch meinen Rentenantritt hatte ich in der Hand. Dass ich mit 66 in Rente darf, hat Herr Müntefering (Franz Müntefering, SPD, ehem. Arbeitsminister, Anm. d. Red.) entschieden.

Der Armutsbericht gilt als größtes sozialpolitisches Vermächtnis Ihrer Zeit beim Paritätischen. Sehen Sie das auch so, oder verorten Sie die Errungenschaften woanders?

Der Bericht ist einer der paritätischen Meilensteine. Der Verband hat aber immer wieder gesellschaftliche Bewegungen aufgegriffen und zum Erstarken gebracht. Darunter die Selbsthilfebewegung im Gesundheitsbereich, Frauenprojekte der 80er Jahre, Arbeitsloseninitiativen und neuerdings die queere und die Klimabewegung. Ein Schlüsselmoment war zu Beginn der 2010er Jahre, als wir uns der Frage der Steuerpolitik zuwandten. Ab dem Zeitpunkt haben wir Armut nicht nur angeprangert, sondern begonnen sie zu bekämpfen. Das war etwas Neues. Ein Wohlfahrtsverband, der nicht nur karitative Arbeit macht, sondern sich offensiv einmischt.

Interview

25 Jahre lang war Ulrich Schneider Leitender Geschäftsführer des Paritätischen Wohlfahrtsverbands. Mit dem 1. August geht er in Rente und will sich dann mehr Zeit nehmen, um zu schreiben. In seinem aktuellen Buch »Krise: Das Versagen einer Republik« skizziert er eine linke Finanzpolitik.

Dafür wurden Sie auch kritisiert, ebenso wie dafür, mit einem Armutsbericht voller Superlative Stimmung kreieren zu wollen. Laut Ihrem Bericht erreichte die Kinderarmut 2022 »eine traurige Rekordmarke«, 2023 blieb die Armut auf »erschreckend hohem Niveau« – stellen Sie Statistiken überspitzt dar?

Wenn ich in der Vergangenheit immer wieder feststellen musste, dass die Armut neue Rekordhöchststände erreicht hatte, war das erst einmal ein Faktum und keine Überspitzung. Ich hätte viel lieber geschrieben, dass die Armut um zehn Prozent gesunken ist und wir auf dem besten Wege sind. Dem war aber leider nie so. Die neoliberale Phalanx stellte unseren Armutsbegriff lange infrage. In den 90ern war der Konsens, es gäbe in Deutschland keine Armut. Der Begriff beziehe sich lediglich auf einige wenige Menschen, die, aus welchem Grund auch immer, keine Sozialhilfe beantragen. Ansonsten decke das Sozialsystem alles ab. Armut fängt für uns aber nicht erst an, wenn Menschen unter Brücken schlafen müssen. Durch unseren Bericht haben wir den heutigen relativen Armutsbegriff in Politik und Öffentlichkeit etabliert.

Was ist Armut laut paritätischer Definition?

Arm ist man, laut EU-Konvention und Paritätischem, wenn man weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens einer Gesellschaft hat. Unter dieser Schwelle wird Teilhabe sehr schwierig. Dass die Politik aus dieser Definition nicht mehr herauskommt, ist ein Erfolg der Parität. Sozialpolitik ist immer auch ein Kampf um Sprache.

Über die Sprache hinaus hat sich in den letzten 30 Jahren auch gesellschaftlich einiges verändert …

Ja, aber nicht zum Positiven. Die Gesellschaft ist durch den Durchmarsch des Neoliberalismus kälter geworden. Die Ungleichheit steigt, das sehen wir in den Zahlen. In den 90er Jahren lag die Armutsquote bei elf Prozent, heute bei 17. Und die Ungleichheit spaltet die Gesellschaft. Auch kulturell hat sich vieles in Richtung Neoliberalismus gewandelt. Mir ist das erstmals aufgefallen, als ich mir nach der Wende am Kiosk eine Fußballzeitschrift kaufen wollte. Plötzlich lag die nicht mehr an ihrem gewohnten Platz. Stattdessen waren da plötzlich Börsenzeitschriften mit Anlagetipps und Ratgeberliteratur, die einem erklärte, man müsse nur an sich glauben und die Ellbogen ausfahren, dann könne man alles erreichen. Selbst in der Wohlfahrtspflege sprach man plötzlich von »Kunden«, wenn man mit Hilfebedürftigen zu tun hatte, zynischerweise sogar in den Jobcentern. Es hat in vielerlei Hinsicht eine maßlose Vereinzelung in dieser Gesellschaft stattgefunden.

Wie hängen neoliberale Entwicklungen, Verarmung und Rechtsruck zusammen?

Die soziale Unsicherheit als Ergebnis des Neoliberalismus hat den Rechtsruck befördert. Wenn Menschen konstant Angst vor sozialem Abstieg und Armut haben und das politische System Probleme bestenfalls halb bearbeitet, nie so, dass es wirklich reicht, werden sie leicht zur Beute rechtsradikaler Stimmenfänger.

Wann wird aus der Abstiegsangst eine Aversion gegen arme Menschen?

Jene Menschen fürchten vor allem, nicht mehr dazuzugehören. Was auch faktisch so ist, wenn nicht mehr genug Geld da ist, um sich die gewohnte Fußball-Jahreskarte zu leisten, zum wöchentlichen Kegeln zu gehen oder seinen Kindern Musikunterricht zu zahlen. Das kompensiert man, indem man auf die angeblich faulen Bürgergeldbezieher schimpft, und sich so wieder dem Mainstream angehörig gefühlt.

In Ihrem neuen Buch »Krise« nennen Sie einige Maßnahmen, um Armut abzuschaffen. Darunter einen gerechten Mindestlohn, eine Bürgerversicherung und Mieterschutz. Zugleich beschreiben Sie, wie schwach die Armutslobby aufgestellt ist. Wie wollen Sie die Ideen also umsetzen?

Ich beschreibe eine linke Steuer- und Finanzpolitik. Ohne Umverteilung werden wir nicht in der Lage sein, diese Gesellschaft zusammenzuhalten. Im Moment gibt es allerdings keine realistisch denkbare Parteienkonstellation, die das umsetzen würde. Nüchtern betrachtet werden wir den Karren wohl noch einige Jahre weiter in Richtung Wand fahren sehen. Deswegen gibt es aber keinen Grund, es nicht weiter zu versuchen. Ganz im Gegenteil.

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Wer übernimmt den Versuch? Die Wohlfahrt, Parteien, eine Bewegung?

Parteien bleiben in Deutschland in der Schlüsselposition für eine politische Wende. Sie müssen aber auch getrieben werden. NGOs müssen wesentlich zugespitzter auftreten und dürfen keine Angst davor haben, auch Systemfragen aufzuwerfen, sei es in der Wohnungspolitik oder im Gesundheitswesen. Kompromisse zu schließen ist in einer Demokratie Sache des Parlaments. Ich weiß nicht, was es für einen Sinn haben soll, wenn NGOs gleich mit Kompromissen losmarschieren, wie es so häufig der Fall ist.

Einer der Gründe liegt wohl darin, dass NGOs und Parteien häufig personelle Überschneidungen haben.

Ja, Wohlfahrt und vor allem Gewerkschaften werden in der Spitze häufig von Menschen getragen, die Parteikarrieren hinter sich haben und den Parteien gelegentlich durchaus etwas zu verdanken haben. Das macht natürlich etwas aus. Eine Biografie ist ja kein Zufall, sondern sagt etwas über Haltung. Aus Biografien resultieren Netzwerke ebenso wie Abhängigkeiten. Sie kann manchmal nützlich sein, aber auch hinderlich.

Sie waren selbst von 2016 bis 2022 Linke-Mitglied. Was sagt das über Ihre Haltung, Netzwerke und Abhängigkeiten aus?

Ich war lediglich beitragszahlendes Mitglied, ohne Funktion oder Amt, mehr nicht. Das ist ein Unterschied. Deswegen gab es keine Abhängigkeiten. Wichtig war, dass die Hauptloyalität gänzlich beim Verband liegt.

Gab es wegen Ihrer Parteimitgliedschaft Schwierigkeiten bei Kooperationen? Die Vereine des Paritätischen haben ja diverse politische Hintergründe.

Als ich in Die Linke eintrat, hat es ein bisschen gerumst. Zu dem Zeitpunkt war das für einige die »Schmuddelpartei«, mit der man nicht spielte. Es gab aber keinen Zweifel an meiner Loyalität, ich war immer 100 Prozent Paritäter – schließlich ist fast meine ganze Berufsbiografie Parität. Überrascht war ich, dass ich auf politischen Partys plötzlich akzeptierter zu sein schien als zuvor. Ganz nach dem Motto, besser in der falschen Partei als in gar keiner.

Weil Sie berechenbarer wurden?

Ja. Sobald man in irgendeiner Schachtel ist, sind alle beruhigt.

Sie meinten einmal, Sie hätten keine Zeit, Marx zu lesen. Werden Sie sich dem in der Rente widmen?

Erst einmal werde ich mich ausruhen. Dann werde ich weiter Bücher schreiben, mir Zeit für Recherche und Diskussionen nehmen und diese in den öffentlichen Diskurs hineintragen. Und ich möchte mehr Musik machen und Songs schreiben. Marx werde ich auf keinen Fall lesen.

Warum nicht?

Man muss nicht gleich so hart einsteigen, wenn man in Rente ist. Das, was ich von Marx gelesen hab, fand ich sehr bereichernd. Ich werde aber mit Sicherheit keine vertiefenden marxistischen Studien im hohen Alter beginnen.

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