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Die gefährlichen Alten
Von Goethe bis Godard: Über »Spätwerke« in der Kunst
Ein Spätwerk kann vieles sein, sogar genial. Aber eines nicht: noch einmal ein Frühwerk. So wenig wie ein Alter wieder ein Junger werden kann, der Routinier ein Anfänger. Die Zeit ist nicht umkehrbar, das wusste auch Goethe, der das Faust-Thema lebenslang mit sich herumtrug. Trotz aller Erfahrung: Einen »Werther«, wie er ihn 1774 als 25-Jähriger veröffentlichte, konnte er später nicht mehr schreiben. Den zweiten Teil des »Faust« aber schloss er erst mit 82 Jahren ab – nachdem er das unfertige Manuskript 30 Jahre lang unter Verschluss gehalten hatte.
Kurz vor seinem Tod holte er es wieder hervor. Da fehlte doch noch etwas? Ja, der Ausgang der Wette zwischen Faust und Mephisto. Erst der greise Goethe an der Schwelle zum Tod konnte entscheiden, wie sie ausgehen soll. Und er entschied sich, wenn auch auf überaus zwiespältige Weise. Denn Faust, das Alter Ego Goethes, bleibt, was er war – ein unruhiger Geist, der über den »Tüchtigen« ausruft: »Im Weiterschreiten find’ er Qual und Glück, Er! unbefriedigt jeden Augenblick.« Dann senkt sich Dunkelheit über Faust, Mephisto lässt bereits sein Grab schaufeln, aber der erblindete Faust meint, hier werde Neues gebaut, der Sumpf entwässert. Alles läuft nach Plan, aber er ist aus dem Spiel!
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Das also ist die Wahrheit, die man bitter nennen kann – oder auch erlösend. Und wer ist dieser »Tüchtige«, wenn nicht er selbst? Goethe greift zu einem höchst dialektischen Winkelzug, denn alles Bekennen liegt hinter ihm. Gut gelebt hat, wer sich gut zu verbergen verstand, heißt es bei Blaise Pascal. Aber sollte das gerade auf einen Repräsentanten wie Goethe zutreffen?
Ja, denn auch das Repräsentieren war ihm Maske, die ihn schützte vor Häme und Spott, die von sogenannten Experten über ihn ausgeschüttet wurden. Wie fielen sie über seine Theorie der Urpflanze, den Zwischenkieferknochen, die Farbenlehre her, lachten über den Steinesammler, der sich am liebsten mit abseitigen Dingen beschäftigte, die niemanden interessierten, nur ihn selbst.
Aber gerade diese Neugier im (scheinbar) Abseitigen war es, die ihn über mehr als sechs Jahrzehnte schöpferisch hielt. Man hat später penibel rekonstruiert, womit der alte Goethe seine Tage verbrachte: Er liest neue Autoren wie Walter Scott, Victor Hugo und Honoré de Balzac im Original, schreibt über serbische Dichtung, aber auch über »Wassernüsse, Mangosamen, batavische Pflanzen, über mexikanische Bergwerke, Helgoländer Granit und Stearinsäure, über den Ruß der Pflanzen, den Schleim der Irrlichter und die Eingeweide des Kängeruh« (Emil Ludwig). Klar ist, derartige Themen hat er sich selbst gewählt. Napoleon bleibt dabei ein heimlicher Pate für seinen Faust, und der unstet-triebhafte Lord Byron ist ihm so nah, wie es ihm sein eigener Sohn August nie sein konnte.
Gottfried Benn hat Goethe in seinem Aufsatz »Altern als Problem für Künstler« von 1954 viel Raum gegeben. Vielleicht, weil auch er nicht erwartet hätte, wie souverän unser »olympischer Urgroßvater« auf die Zumutungen des Alters reagiert. Zuerst mit einer Maßnahme, die die neuen, nach vorn drängenden Jungen, diese kraftstrotzenden Naivlinge, buchstäblich mattsetzt: Sich ihnen unverständlich machen! Darum schreibt er im zweiten Teil des »Faust« von Lamien, Greifen, Pulcinellen, Imsen und Empusen, schafft imaginäre Landschaften und verwirrt mit Zeitsprüngen – eine ganze dämonische Gegenwelt wird aufgerufen. Alles richtet sich hier gegen das Zu-nahe-Liegende, das, wie Goethe weiß, immer falsch ist. So notiert er in seinen »Maximen und Reflexionen«: »Altwerden heißt, selbst ein neues Geschäft antreten, alle Verhältnisse verändern sich und man muss entweder zu handeln ganz aufhören oder mit Willen und Bewusstsein das neue Rollenfach übernehmen.«
Doch ab wann ist man überhaupt alt, wann beginnt das Spätwerk? Das bleibt eine Frage der Perspektive. Denn Alter ist auch eine diskreditierende Vokabel im Generationenkampf. 1925 kommt Rainer Mara Rilke, da ist er 49 Jahre alt (und stirbt im Jahr darauf), aus seiner Eremitenklause im schweizerischen Muzot für einige Zeit nach Paris, besucht die Salons, wo sich die Literatenszene trifft. Doch hier wenden sich 30-jährige Avantgardedichter, die man heute meist nicht mehr kennt, mit höhnischen Blicken von dem Dichter-Fossil ab, lassen ihn einfach stehen.
Die Jungen dünken sich oft denen überlegen, die über lange Zeit, nicht selten still und öffentlich wenig beachtet, ein Werk geschaffen haben. Es interessiert sie nicht. Schon allein deshalb nicht, weil sie sich nur für sich selbst interessieren, mitunter auch ohne Werk als reine Selbstperformer. Das ist so neu nicht, man denke daran, wie die etablierte Kunstwelt auf Goethes »Die Leiden des jungen Werther« reagierte, das in ihren Augen ein moralisch zweifelhaftes Machwerk war, nur dazu angetan, die Selbstmordrate unter labilen Naturen in die Höhe zu treiben!
Von George Bernard Shaw stammt der oft kolportierte Satz: »Alte Männer sind gefährlich, weil ihnen die Zukunft gänzlich egal ist.« Shaw selbst wurde 94 und wollte die Altersrücksichtslosigkeit als Vorzug begriffen wissen. Aber welche Meisterwerke entstehen tatsächlich noch in hohem Alter? Vermutlich genauso wenige wie in frühem Alter.
Die Dichter Büchner, Kleist, Heym, Schubert oder Trakl starben jung, ebenso der Komponist Franz Schubert oder die Maler Franz Marc und August Macke (gefallen im Ersten Weltkrieg) – aber was ist mit Beethoven und seinen späten Kompositionen (zumal die eines zunehmend Ertaubten) oder den Bildern des alten Tizian, der immerhin 99 Jahre alt wurde? Sie blicken schonungslos auf das, was von den zerbrochenen Idealen des Anfangs übrig blieb, und üben sich in der Kunst des dennoch Möglichen. Über Rembrandts Spätwerk weiß Benn zu sagen, es sei »verschlossen, vorsichtig, ein kaltes: ohne mich«. Der alte Beethoven revolutionierte noch einmal die Musik.
Bei den einen versiegt die schöpferische Kraft früher als bei anderen. Jene, die bis ins hohe Alter beachtete Werke schaffen, scheint eines zu verbinden: Sie zerbrechen immer wieder frühere Rollen, auch – und gerade – jene, die ihnen Erfolg brachten. Der Filmregisseur Jean-Luc Godard ist dafür vielleicht das beste Beispiel. Anfang der 60er Jahre wurde er mit Meisterwerken wie »Außer Atem« oder »Die Verachtung« schlagartig berühmt, zum Inbegriff der Nouvelle Vague. Aber davon wollte er dann nichts mehr wissen, ging den Weg als politischer Aktivist, um schließlich auch diese Phase rigoros zu beenden und sich neuen – immer experimentelleren – Formen des Films zuzuwenden, die zu Expeditionen ins Reich der Bilder wurden.
Was ist überhaupt ein Bild, und welche manipulative Funktion hat es in einer Medienwelt, die mit Bildern Produkte und Ideologien gleichermaßen bewirbt, mehr noch: sie erst erschafft? Mit fast 90 Jahren drehte Godard 2019 sein »Bildbuch«, eine Liebeserklärung an die Faszinationskraft von Bilderwelten und ein diese durchdringender analytischer Blick zugleich. Sein Anspruch: Sehen will ebenso gelernt sein wie lesen. Ohne die eigene Urteilskraft zu bilden, bleibe der Mensch ein bloßes Objekt fremder Interessen.
Aber nicht alle haben die Kraft, sich permanent zu wandeln und den Kunstbetrieb – der ihnen schließlich zu Geld und Ansehen verhilft – links liegen zu lassen. Doch wer eine Rolle, die ihn einmal populär gemacht hat, immer nur wiederholt, versinkt schnell in Bedeutungslosigkeit. Da ist es konsequenter, ganz auszusteigen. Etwa wie Brigitte Bardot bei Godard in »Die Verachtung« an der Seite von Michel Piccoli notorisch weiblich, hübsch und verführerisch auftrat – aber doch mit dem wachen Instinkt dafür, dass sie hier von ihrem Geliebten (Piccoli als ein Drehbuchschreiber) als Köder für den US-amerikanischen Produzenten benutzt wird. Daraufhin verweigert sie sich ihm. B. B., das Sexsymbol der 60er Jahre, stieg dann tatsächlich aus dem Filmgeschäft aus und lebt heute – mit fast 90 Jahren – ihr zweites Leben als Tierschützerin.
Andere Regisseure von Weltgeltung wie Woody Allen (88) bleiben sich in ihrer Skepsis gegen jeden Idealismus treu. Vielleicht ist das gut so. Denn der Mensch ist ein notorisch unentschlossenes Wesen. Und die Wahl zwischen einem strengen Kunstanspruch für wenige und kluger Unterhaltung für viele ist wohl nur von Fall zu Fall zu treffen. Allen bleibt – mit wechselndem Erfolg und jedes Jahr einem neuen Film – bis heute dem Gestus des Stadtneurotikers treu. 2020 drehte er mit »Rifkin’s Festival« eine melancholische Referenz an die Großen der Filmgeschichte. Da sahen wir dann Christoph Waltz als schachspielenden Tod, wie schon bei Allens Idol Ingmar Bergman in »Das siebente Siegel« 1957.
Hermann Hesse beendete 1943 sein Alterswerk »Das Glasperlenspiel« – ein Plädoyer für wahrhaftige Bildung gegen den Ungeist der Nazi-Ideologie. Schwer zu lesen, auch weil er mit der pietistischen Traktatform seiner Missionarseltern spielt und zugleich eine Science-Fiction-Kulisse aufbaut. Etwas Neues zum Schluss, das sich des Überkommenen auf originelle Weise bedient. Danach war er noch fast zwei Jahrzehnte ein Autor ohne weiteres Werk, der Briefe schrieb, aquarellierte und sinnierend im Garten Reisig verbrannte. Wenn das nicht wahre Altersweisheit ist!
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