Solange es geht, geht es noch

Was fühlt man, wenn man einen Kranken pflegt? Martina Hefters durchgearbeiteter Roman»Hey guten Morgen, wie geht es Dir?«

  • Frédéric Valin
  • Lesedauer: 5 Min.
Ist man auf einem anderen Planeten, weil man jemanden pflegt?
Ist man auf einem anderen Planeten, weil man jemanden pflegt?

Jupiter geht es nicht gut. Er ist mit einer progressiven Nervenerkrankung diagnostiziert, sein Körper versagt immer häufiger den Dienst. Dadurch kann er kaum mehr vor die Tür gehen, und es kommt auch vor, dass er umfällt und nicht mehr hochkommt. Er denkt darüber nach, in ein Pflegeheim zu ziehen.

Juno ist strikt dagegen. Sie sind verheiratet, ungefähr gleich alt. Solange es noch geht, geht es noch, sagt sie sich, und wischt alle weiteren Gedanken dazu beiseite. Aber nur die Gedanken – die Gefühle dazu bleiben. Und weil es Juno ist, die diese Gefühle hat, sind sie auf eine seltsame Art verdreht und eigenwillig, ohne dass sie falsch oder gar schädlich sind.

Juno umweht eine zarte Einsamkeit, die sie selbst aber nicht jammernd konstatiert; sie gehört seit jeher zu ihrem Leben dazu, schon während ihrer Kindheit war sie die seltsame Außenseiterin, die keine Freundinnen hatte, sich ihre Klamotten selbst zusammennähte und mit zehn begann, sich die Haare selbst zu schneiden. Sie leidet nicht an dieser ihrer Eigenheit, verspürt aber doch eine kleine Leere. So ganz zu sich kommen kann sie nur auf der Bühne: sie ist Performancekünstlerin. Erst im Tanz ist sie ganz weg und ganz da.

Dieses Bedürfnis, über sich selbst hinauszuwachsen und in einer Rolle aufzugehen, verleitet sie vermutlich dazu, nachts den Lovescammern, den Liebesbetrügern, zu antworten, die ihr via Instagram schreiben. Für Juno ist es nur ein Spiel, das ihr – die nicht mehr schlafen kann – die Zeit vertreibt. Sie erzählt den Scammern ausgedachte Geschichten über sich: dass sie drei Falken besitzt, Geldscheine raucht, in Rumänien drei Hunde hat. Die meisten Betrüger merken schnell, was da gespielt wird, und blocken sie. Einer aber nimmt den Faden auf: Benu, der in einer mittelgroßen Stadt in Nigeria wohnt und sehr viel kifft. Was genau ihn treibt, sich auf Juno einzulassen, bleibt unklar: Vielleicht seine eigene Langeweile, vielleicht auch eine ehrliche Faszination, oder, wie Juno immer wieder vermutet, dass er vielleicht doch langfristig eine Möglichkeit sucht, ihr Geld zu entlocken.

Interessant ist Juno auch deswegen, weil sie keine reine Seele ist: Der frühe Tod zweier ehemaliger Schulkameraden, die sie einst quälten, erfüllt sie noch heute mit einer gewissen Genugtuung. Während des Austausches mit Benu denkt sie immer wieder darüber nach, aus dem Material vielleicht ein Theaterstück zu machen; wohl wissend, dass sie Benu damit ausbeuten würde. Und dann ist da noch der Verrat an ihrem Mann: Denn ihrem Jupiter erzählt Juno nichts von Benu, es ist eine Art von Affäre ohne sexuellen Drive.

Benu gehört ganz ihr. Über ihn erschließt sich Juno nicht nur eine ganze Welt, sondern auch den Himmel darüber. Juno ist nämlich sehr interessiert an Sternbildern und schaut sich online immer wieder den Nachthimmel an, den Benu, würde er vor der Tür in den Himmel blicken, betrachten könnte. Himmelskörper sind ohnehin ihr großes Hobby, auch in ihrem Lieblingsfilm spielen sie die Hauptrolle: »Melancholia« von Lars von Trier handelt von den Tagen vor der Kollision des gleichnamigen vagabundierenden Planeten mit der Erde. »Sie lebte auf diesem Planeten«, heißt es über Juno. »Nicht auf dem, der getroffen wurde, sondern auf dem anderen.«

Jenseits aller persönlichen – psychologischen oder biografischen – Gründe für Junos einsame Traurigkeit gibt es hier auch einen sozialen Aspekt. Der wird im Roman selbst nicht ausbuchstabiert, schwingt aber in vielen Szenen mit: diese Einsamkeit nämlich teilt sie sich mit vielen der zirka sieben Millionen pflegenden Angehörigen in Deutschland. Es ist nicht Jupiters Erkrankung, die sie auf diesen anderen Planeten verbannt, sondern die Blicke der anderen, die den beiden in der Straßenbahn zugeworfen werden; die Briefe, die sie unbedingt einwerfen muss und manchmal doch vergisst; die Angst zu verreisen, weil Jupiter ja stürzen könnte; die kaputte, bürokratische Abgebrühtheit der Gesundheitsbehörden.

Als sie ihm im September jene Spekulatius kauft, die er so sehr liebt, kommentiert eine junge hippe Frau abschätzig über ihren Kopf hinweg, wie man denn nur schon im Sommer Weihnachtszeug kaufen könne: Da bricht Juno im Gang des Supermarktes zusammen und weint. Zu viel ist zu viel: Die Zumutungen sind kein planetarer Einschlag, sondern ein Kometenregen.

Was Juno, was ihr Leben (das sie im Übrigen als nicht gut und nicht schlecht empfindet) zusammenhält, ist Jupiter. Er ist nicht Kern der Geschichte, er ist mehr der beschützende Mantel. Einmal sagt Juno zu ihren Arbeitskollegen: »Wusstet ihr, dass Jupiter mit seiner Gravitationskraft die Erde vor Asteroideneinschlägen schützt?« Kein Wunder, will sie ihn nicht in einem Heim wissen; kein Wunder, fällt es ihr schwer, an irgendeine Zukunft zu denken. Kein Wunder auch, dass sie kaum noch schläft.

In diesem Roman passiert erstaunlich wenig. Es gibt zwar eine ganze Menge Spannungen, aber keine davon löst sich auf. Benu verschwindet am Ende einfach, Jupiter hat einen Schub, von dem er sich ein wenig erholen wird. Alles bleibt in der Schwebe. Dass diese Geschichte trotzdem trägt, liegt daran, dass Martina Hefter jeden einzelnen Satz dieses Romans auf sein Tempo und seinen Gehalt durchgearbeitet hat. Das eigensinnig Tänzerische, das Juno auszeichnet, findet sich genau so auch im Stil wieder.

An Benu schreibt Juno einmal: »Ich leb in einem Land, in dem man wochenlang die Stuckdecke anstarren kann und niemand merkts.« Auch hier zeigt sich Hefters großes Talent, im Kleinen das Große zu zeigen; so ist diese Gesellschaft ja tatsächlich für all jene, die auf Hilfe angewiesen sind.

Martina Hefter: Hey guten Morgen, wie geht es Dir? Klett-Cotta, 224 S., br., 22 €.

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