Luftfische am Gegenufer

Von Wolken und Regenrinnen: Neue Gedichte im roughbook-Format von Stefan Döring und Brigitte Struzyk

  • Kai Pohl
  • Lesedauer: 4 Min.
Kommt raus, ihr Luftfische! Dunkle Wolken über der Großtstadt, in diesem Fall Frankfurt am Main.
Kommt raus, ihr Luftfische! Dunkle Wolken über der Großtstadt, in diesem Fall Frankfurt am Main.

Vor einigen Wochen gab der Engeler Verlag mit Sitz in Berlin und im schweizerischen Schupfart das Erscheinen zweier neuer Lyrikbände in der Reihe »roughbooks« bekannt: die Nr. 64 von Stefan Döring mit dem Titel »WENN WELT« und die Nr. 65 von Brigitte Struzyk namens »Gegengewichtshebewerk«. Die zeitgleiche Publikation von Poesie aus dem Umfeld der Prenzlauer-Berg-Connection mag unbeabsichtigt sein, es gibt jedoch Umstände, die darauf hindeuten könnten, es handele sich hierbei nicht um Zufall.

Zum einen waren Texte von Stefan Döring und Brigitte Struzyk schon in denselben Ausgaben von Zeitschriften wie »Herzattacke« oder »Abwärts!« abgedruckt, zum anderen haben beide im April Geburtstag: Der eine feierte seinen 70., was als Anlass für die Veröffentlichung auf der Website des Verlages benannt ist; die andere, aus dem Thüringischen stammend, ist jetzt 78 Jahre alt. Und drittens verloren beide kurz nacheinander eine vertraute Person. Bei Stefan Döring war es Bert Papenfuß, der Ende August 2023 nach kurzer, schwerer Krankheit in Berlin verstarb; bei Brigitte Struzyk handelt es sich um Elke Erb, die im Januar mit beinahe 86 Jahren ein erfülltes Leben vollendete. Sowohl Erb als auch Papenfuß war jeweils eine Gedenkmatinee an der ausverkauften Berliner Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz gewidmet. Trotzdem: Von den zwei jüngst erschienenen »roughbooks« steht ein jedes für sich selbst.

Das »roughbook 065« von Brigitte Struzyk, herausgegeben von Christian Filips, beginnt, dem Charakter der Reihe gemäß, auf der Umschlagtitelseite mit einem Gedicht: »Querfeldein (…) über einen Schuh von Hans Sachs und die Unsterblichkeit im Blick«, und weiter geht’s »über Stock und Stein«, umstandslos mittenhinein in das stilgerechte Wortfeld aus Kraut und Rüben, Pestwurz und Moos, Glasbruch, Asche, Morgenglast, Regenrinne, Wohnungsbaukombinat und Wasseraufbereitungsanlage, in das, »was aus der Sprache rieselt«, wenn »die Worte fliegen (…) zum Sinn«. Und genau das machen sie, in diesen 65 Texten, Aphorismen, organischen Fügungen – jedoch allesamt nicht zu verwechseln mit Naturgedichten!

Die Natur, um welche die Zeilen hier kreisen, ist die des Ergründens der Dinge und Begebenheiten, die nicht objekthaft neben- oder gar übereinander gestellt sind, sondern deren Verbundenheit in vitalen Zusammenhängen zur Sprache kommt. Struzyks Lyrik ist konkret, sinnlich, erfahrungsgesättigt und irgendwie immer eine mehr oder weniger stille, dennoch deutlich artikulierte Auflehnung gegen das Beherrschtwerden – sei es durch »das beglückende Unglück«, durch Pässe und Passwörter oder durch die »Tyrannen (…) Armut, Ungleichheit, Ohnmacht«. Denn »Poesie ist«, wie sie einst gemeinsam mit Elke Erb herausfand, »alles, was sich nicht verwalten lässt.« Des Weiteren »[ist] die Sprache die unmittelbare Wirklichkeit des Gedankens«, beziehungsweise umgekehrt, besser noch zusammengeführt … siehe »Gegengewichtshebewerk«, S. 27!

Damit sei der Staffelstab – sozusagen auf Augenhöhe – an Stefan Döring übergeben. Zu seinem »roughbook 064«, »WENN WELT«, lässt sich sagen, dass diese vierteilige Gedichtsammlung im zweiten Abschnitt aus jenen »Drei Etüden« mit jeweils 33 Strophen besteht, die bereits 2009 als »Distillery 33« in der Reihe »Dreißig plus« im Verlag von Alexander Krohn erschienen, nun aber schon eine Zeit lang vergriffen waren und die nun endlich, auf Anraten von Thomas Kapielski, »hier in einer leicht geänderten Fassung« erneut vorliegen. Schlägt man das Buch in der Mitte auf, hat man die 3. Etüde »könnten wir die luft rauchen« vor Augen, die von Döring zum Begräbnis von Bert Papenfuß im Oktober 2023 in der Kapelle des Friedhofs Georgen-Parochial I, Berlin-Prenzlauer Berg, vorgetragen wurde.

Außerdem wäre zu sagen, dass das Leiterthema der 2. Etüde, »ich werde mir eine leiter kaufen«, an Ludwig Wittgensteins Satz 6.54 im »Tractatus logico-philosophicus« angelehnt erscheint: »[man] muss (…) die Leiter wegwerfen, nachdem [man] auf ihr hinaufgestiegen ist«. Mit einer geringfügigen Transformation des bekannten Schlusssatzes aus selbigem Werk gelangt man zu einem der naheliegenden Urmotive der Dichtung von Stefan Döring: »Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man« schreiben!

Eine Folge aus vier Gedichten, deren erstes mit einem Anklang an ein Werk von Michel Foucault »ÜBER WACHEN UND SCHLAFEN« heißt, verweist darauf, dass die strenge Form und die Systematik von verbalen Spiegelungen, Umkehrungen, reflektierten Reflexionen im Versbau nicht Realität poetisch abbilden, sondern poetische Realität erschaffen. Der das Buch abschließende Zyklus »MONATE JAHRE« ist ein »Auftragstext« der Lebensgefährtin des Autors und enthält die wohl neuesten seiner Gedichte, die auch mit einem neuen Klang aufwarten. In »JULI TON« hört sich das so an: »die wolken stehen still/ alles ist bereitet bereit/ luftfische wir/ nie in unserem element/ gleiten wir ungläubig dahin«.

So ungefähr wird es Brigitte Struzyk ergangen sein, als sie ihr Gedicht »Meide die Schlange vor dem Testzentrum« verfasste: »Dort am Ufer liegen sie/ Sich in den Armen, das Gegenufer/ Trieft von Leuten, sie trinken/ Und sieh: das reine Abenteuer/ (…)/ Kullern sie in die Gosse/ Zum Auferstehen!«

Stefan Döring: WENN WELT. Roughbooks/Engeler, 90 S., br., 12 €.
Brigitte Struzyk: Gegengewichtshebewerk. Hg. v. Christian Filips, Roughbooks/Engeler, 72 S., br., 12 €.

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