Traum von der Tarnkappe

Textile Texte (7): Ein kurzes Traktat darüber, wie und warum Mode etwas zeigt oder verbirgt

  • Stefan Ripplinger
  • Lesedauer: 4 Min.
Familie Versace kann sich den Prunk leisten, den sich andere nur fürs Image leihen (Szene aus der Dokumentation »Die Versace-Saga« von 2023).
Familie Versace kann sich den Prunk leisten, den sich andere nur fürs Image leihen (Szene aus der Dokumentation »Die Versace-Saga« von 2023).

Eine Bekannte erzählte uns, sie habe sich einen hübschen Franzosen geangelt. Als sie ihn zu Hause auspackte, stellte sich heraus, dass seine Unterwäsche löchrig ist. Ob sie ihn noch umtauschen konnte, haben wir nicht erfahren.

Ein Snob wird aus dieser Geschichte die Lehre ziehen, wie ein Phileas Fogg oder ein James Bond sei der Gentleman auch in extremen Situationen ein Gentleman, sehe noch halbnackt wie angezogen und selbst bei 50 Grad im Dschungel von Sumatra wie aus dem Ei gepellt aus. Aber das wäre läppisch.

Textile Texte

Mode und Verzweiflung: In diesem Sommer beschäftigt sich das nd-Feuilleton mit Hosen, Hemden, Hüten und allem, was sonst noch zum Style gehört.

In Wahrheit handelt es sich bei der Geschichte um eine Fabel, die uns sagt, dass Kleidung zweierlei kann: zeigen und verbergen. Der junge Mann zeigte sich im besten Licht und verbarg, dass ihm nach Hemd und Hose bereits das Kleingeld ausgegangen war. Ja, vermutlich hatte er alles in die äußere Hülle investiert und gehofft, die Enthüllung finde im Dunkeln statt. Aber er wurde einer grausamen Inspektion unterzogen und unterm Leinen fanden sich Lumpen.

Unbedingt nötig ist es aber nicht, einen Menschen zu entkleiden, um zu erkennen, was er mit seinem Kleid verbergen will. Denn jedes Zeigen ist auch ein Verbergen, jedes Verbergen ein Zeigen. Bekanntlich verbergen die Armen, dass sie arm sind, indem sie sich in einem Fake-Versace zeigen. Und die Reichen verbergen, dass sie reich sind, indem sie sich in abgewetzten Cordhosen zeigen. Und überhaupt alle, die sich bekleidet zeigen, verbergen, dass sie fette, krumme, oft genug haarige, wulstige, schlaffe oder picklige Tiere sind. 

Soweit ist die Sache klar. Aber inwiefern ist auch das Verbergen ein Zeigen? Nun, indem etwas verborgen wird, zeigt es sich als nicht-vorzeigbar. Das muss erst einmal nicht auffallen, aber die Erfahrung lehrt, dass alles, was einer oder eine verbergen will, sich irgendwann einmal zeigt. In früheren Modeepochen wollten alle dick sein und verbargen ihre Dürre, indem sie sich ausstopften. Heute, im selbstoptimierten Spätkapitalismus, wollen alle fit und dünn sein und behängen sich mit weiten, dunklen Stoffen, die ihre Korpulenz möglichst kaschieren. Der Kennerin fällt nicht nur das sofort auf, sie sieht bereits am Schnitt, an den Schulterpolstern, an den superdicken Sohlen, an den alles übertönenden Farben, dass dieser oder jener Person ihr Körper höchst unangenehm ist und sie gern größer, kleiner, heller, dunkler, runder, rauer, muskulöser, zierlicher, weiblicher, männlicher wäre, als sie nun einmal ist. »Was für eine Farce. Als ob man seinem Körper entkäme«, könnte einer schimpfen. Aber das wäre dumm, und nicht nur, weil Körper bloß soziale Fiktionen sind.

Denn betrachten wir einmal diejenigen, die sich diese Gedanken nicht machen, die also ihre Körper, ihren Status oder ihr Geschlecht nicht verändern wollen und einfach so sind, wie sie sind. Betrachten wir die Fahrradfahrer in ihren Funktionskleidern. Sie halten sich für normal und unauffällig, sind tatsächlich aber aufdringlicher als irgendeine aufgebrezelte Madame, die gerade zum Opernball stöckelt. Bei diesen Funktionalisten schlabbert die Trekkinghose und knirscht die Daunenjacke, das T-Shirt reicht nicht ganz über den Bauch, die Chemiefaser dünstet Schweiß aus, Papa hat zu allem Unglück eine Mütze mit Bundeswehr-Emblem übergestreift, und Mutti trägt natürlich Birkenstock. Tiefe Schwermut überkommt bei diesem Anblick. Aber warum? Nein, nein, nicht weil Funktionskleidung Erotik leugnet. Den Gedanken wollen wir gar nicht zu Ende denken. Der Anblick deprimiert, weil er keiner sein will. Die Funktionskleidung teilt uns mit: »Wir sind gegen Regen, gegen Hagel, gegen Hitze, gegen Sonne und vor allem gegen Blicke gerüstet. Wir tragen Kleidung, weil es praktisch ist und nicht, um nach irgendwas auszusehen. Uns geht es gut, schau woandershin.«

Die Funktionskleidung ist also eine Art Tarnkappe, die ihre Zauberkraft verloren hat. Sie rechnet nicht mit Passantinnen, Fußgängern, U-Bahn-Passagieren, die, bevor sie sich in ihr Handy versenken oder hinter einem Blumenkübel verstecken können, die funktionsbekleidete Familie betrachten müssen, welche sich gerade auf ihrem Ausflug ins Umland befindet. Die Funktionskleidung versucht das Unmögliche: Sie will sich im Zeigen verbergen. Ebendeshalb trägt sie so enorm auf.

Ich dagegen träume vom vollständigen Verbergen, von der Tarnkappe-prêt-à-porter. Sie wäre, denke ich, so möglich: Wähle die Mode von vorletztem Jahr, nicht vom letzten, auch nicht von einem davor. Meide alles Auffällige, aber auch alles bloß Funktionale. Sei der »Man at C&A«, von dem die Specials sangen, oder wegen mir die Woman, der letzte Mensch jedenfalls, ganz in Grau, der, so heißt es in dem Song weiter, auf den Atomkrieg wartet und sich, noch bevor die Katastrophe eintritt, selbst auflöst. Das müsste die Apotheose der Mode sein, ihr endgültiges Eingehen in die Zeit. Hat Mode je etwas anderes gewollt? Und kriegstüchtig wäre es irgendwie auch.

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