Das Finale im Jahr 2640

In Halberstadt wird auf einer Orgel ein Stück von John Cage gespielt – noch gut 615 Jahre lang

  • Hendrik Lasch
  • Lesedauer: 7 Min.
Rainer O. Neugebauer gehört dem Kuratorium der John-Cage-Orgel-Stiftung an, die in Halberstadt ein so beeindruckendes wie irrwitziges Experiment durchführt: die Aufführung eines Musikstücks von exakt 639 Jahren Dauer.
Rainer O. Neugebauer gehört dem Kuratorium der John-Cage-Orgel-Stiftung an, die in Halberstadt ein so beeindruckendes wie irrwitziges Experiment durchführt: die Aufführung eines Musikstücks von exakt 639 Jahren Dauer.

Es gibt Konzerte, bei denen kann man sich nicht zeitig genug um Karten kümmern. Um Tickets für Auftritte von Taylor Swift oder das Neujahrskonzert der Wiener Philharmoniker muss man sich Monate im Voraus bemühen. Im Fall einer musikalischen Aufführung in der Burchardikirche in Halberstadt indes hat der Vorverkauf nicht Monate vor dem Ereignis begonnen und auch nicht Jahre oder Jahrzehnte. Die Tickets sind einzulösen in etwas mehr als sechs Jahrhunderten, genau: am Abend des 4. September im Jahr 2640. Eine genaue Uhrzeit ist nicht genannt. Die Anzahl der Eintrittskarten ist limitiert, sagt Rainer O. Neugebauer: »Es werden maximal 2640 Stück ausgegeben.«

Neugebauer, der als Sozialwissenschaftler an der Hochschule Harz lehrte, gehört dem Kuratorium einer Stiftung an, die in Halberstadt ein so beeindruckendes wie irrwitziges Experiment durchführt: die Aufführung eines Musikstücks von exakt 639 Jahren Dauer. Die Eintrittskarten, bei denen es sich um geätzte Metallplatten im edlen Holzschuber handelt, berechtigen zum Besuch des finalen Aktes in einem Konzert, das bereits seit mehr als 23 Jahren läuft. Am 5. September 2001 erfolgte der festliche Auftakt zu einem musikalischen Abenteuer, das weltweit seinesgleichen sucht.

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So langsam wie möglich

An jenem Tag hätte der US-amerikanische Komponist John Cage Geburtstag gehabt. Er ist bekannt und berühmt für Kompositionen und Klangexperimente, die so anregend wie verstörend sind. Ein Stück heißt »4:33«. Bei seiner Uraufführung setzte sich Cage an einen Flügel und spielte vier Minuten und 33 Sekunden lang keinen Ton. Ein anderes heißt »As slow as possible«, wobei der Titel als Regieanweisung wörtlich zu nehmen ist: Das Stück sollte so langsam wie nur irgend möglich gespielt werden. Es wurde ursprünglich für Klavier komponiert, ein Instrument, bei dem angeschlagene Töne verhallen. Damit war das minimale Tempo vorgegeben; die Uraufführung dauert 22 Minuten.

In Halberstadt wird das Stück auf einer Orgel gespielt, weshalb die Aufführung ORGAN2/ASLSP heißt. Bei diesem Instrument werden nicht Saiten angeschlagen, sondern Pfeifen durch einen Luftstrom zum Klingen gebracht. Wenn dieser Wind nicht nachlässt, erklingen die Töne dauerhaft. Bei einer »Woche für zeitgenössische Orgelmusik« 1997 überlegten Teilnehmer, wie langsam in diesem Fall »so langsam wie möglich« sein könnte. Eine Nacht? Eine Woche? Wenn der letzte Zuhörer den Saal verlassen hat, der Organist erschöpft von seiner Bank rutscht, die Orgel in Stücke fällt? Man entschloss sich, ein verrücktes Experiment zu wagen: eine Aufführung über mehrere Jahrhunderte. Um die Dauer festzulegen, bezog man sich auf ein historisches Datum. 1361 wurde im Halberstädter Dom eine Orgel eingeweiht, die in die Musikgeschichte einging, weil auf ihr die Oktave erstmals in zwölf Halbtöne gegliedert war. Die Geburtsstunde aller abendländischen Musik, sagen Experten. Von da bis zur Jahrtausendwende vergingen 639 Jahre. Genauso weit in die Zukunft sollte die langsamste aller Musikaufführungen reichen: vom Auftakt im Jahr 2001 bis 2640.

Um die gewagte Idee in die Tat umzusetzen, brauchte es einige Voraussetzungen. Eine davon: ein Regieplan. Es war Neugebauer, der vor Beginn des Projektes ausrechnete, wie lange die Töne aus Cages vierseitiger Partitur jeweils erklingen müssen und wie lang die Pausen in dem Stück zu sein haben, das aus sieben Teilen besteht, wobei ein beliebiger Teil zu wiederholen ist. Welcher das sein wird, stehe noch nicht fest: »Das können spätere Generationen entscheiden.«

Kollern, Tuten, Pfeifen

Bei der Halberstädter Aufführung herrschte wegen eines Auftakts zunächst 17 Monate Stille: Zu hören waren nur das Geräusch der beiden Blasebälge und der Wind, der um die einst als Klosterkirche erbaute, später zeitweise als Schweinestall zweckentfremdete und jetzt zum Konzertort umgewidmete Burchardikirche wehte. Seither folgten 16 Klangwechsel, bei denen im Abstand von Monaten oder Jahren einzelne Pfeifen in das Instrument gesetzt oder entfernt wurden: ein schlichtes Holzgestell, in dem Tasten durch Sandsäckchen niedergehalten werden. Derzeit ertönen sieben Pfeifen, am 5. August 2026 wird mit dem a´ eine achte hinzugefügt. »Mehr erklingen im ersten Teil, der bis 2072 dauert, nie gleichzeitig«, sagt Neugebauer.

Die Geräusche, die so entstehen, faszinieren: ein Kollern, ein Tuten wie vom Signalhorn eines Dampfers, ein Pfeifen. Obwohl sie über Monate anhalten, sind die Töne nicht gleichförmig: Sie verändern sich je nach Standort des Zuhörers im Raum, löschen sich an manchen Stellen gegenseitig fast aus und reiben sich manchmal fast schmerzhaft. An ein gewöhnliches Konzert erinnert indes wenig. »Für viele Besucher hat das nur begrenzt etwas mit Musik zu tun«, räumt Neugebauer ein. »Sie erwarten Rhythmus und Melodie, Emotionen, Sinn und Bedeutung.« All das gibt es bei ORGAN2/ASLSP ausdrücklich nicht, nicht nur wegen der extrem verlangsamten Aufführungsweise. Cage sei generell bestrebt gewesen, Klang von »Ballast« zu befreien, sagt Neugebauer. Seine Musik, schrieb der Komponist, müsse »nicht unbedingt Musik genannt werden«. Es gebe nichts, woran man sich erinnern solle, und keine Themen: »nur Aktivität von Ton und Stille«.

Cage-Fans, die etwa zu den Klangwechseln aus der ganzen Welt anreisen, wissen das. Viele andere Besucher aber begeistere deutlich stärker eine Seite des kühnen Halberstädter Unterfangens, die nichts mit Musik zu tun habe. »Sie fasziniert der zeitliche Aspekt«, sagt Neugebauer. »Sie reizt, dass es sich um ein Projekt handelt, das weit über die eigene Lebensdauer hinausreicht.«

Tatsächlich stiftet das Halberstädter Projekt wie wenige andere dazu an, über die Zukunft nachzudenken: die eigene, die der Stadt, der Welt, der Menschheit. Wer sich in der Burchardikirche in Cages Klangwelt vertieft, kann das im Wissen tun, dass die eigenen Kinder, Enkel und Urenkel das gleiche Stück hören können. In einer Zeit, in der »viele bis zur Erschöpfung von Termin zu Termin hetzen, man also buchstäblich keine Zeit hat«, habe man ein Projekt begonnen, dessen Dauer in etwa der Gesamtbauzeit des Kölner Domes entspreche, schreiben die Initiatoren und attestieren sich einen »philosophisch-optimistischen Umgang mit der Zeit und der Zukunft«. Ihre Devise lautet gewissermaßen: Wird schon werden.

Allerdings sind seit dem Beginn von ORGAN2/ASLSP ereignisreiche Jahre ins Land gegangen. Sie entsprechen zwar nur einem Fünfzigstel der Laufzeit. Allerdings gab es währenddessen eine Pandemie; es kam zu einem Krieg mitten in Europa; und der Zustand des Weltklimas verschlechtert sich dramatisch. Neugebauer räumt ein, er sei nicht mehr ganz so optimistisch wie zu Beginn. Damals habe er als »Knackpunkte« für das Gelingen des Projekts etwa die Frage gesehen, ob es gelingen würde, den Staffelstab regelmäßig an jüngere Enthusiasten weiterzugeben, oder ob man genug Geld aufbringen könne. Um das Orgelstück am Laufen zu halten, sind rund 150 000 Euro im Jahr notwendig. Öffentliche Zuschüsse gibt es kaum, regelmäßige Förderung gar nicht. »Neben dem Bauhaus sind wir das international bekannteste Kulturprojekt in Sachsen-Anhalt«, sagt Neugebauer. »Aber wir sind rein privat finanziert.«

»Viele reizt an unserem Projekt, dass es weit über ihre eigene Lebensdauer hinausreicht.«

Rainer O. Neugebauer Cage-Stiftung

Wie sieht Halberstadt im Jahr 2640 aus?

Schon vor Jahren fragte sich Neugebauer auch, ob Halberstadt womöglich in 639 Jahren zu heiß und zu trocken sein könnte, um dort noch zu wohnen und Kunst zu betreiben. Man merkte auch an, die Burchardikirche werde bei einem erfolgreichen Abschluss der Aufführung »einen so lang dauernden Frieden erlebt (haben) wie noch nie zuvor in der Geschichte«. Auf wie fragilen Annahmen diese Hoffnung beruhte, sei zuletzt aber schmerzhaft deutlich geworden, sagt Neugebauer. Der Krieg ist zurück in Europa. Dazu kommen Gefahren für die demokratischen Gesellschaften, in denen die extreme Rechte immer stärker an Einfluss gewinnt und immer mehr Menschen nicht mehr mit Fakten und Argumenten zu gewinnen sind. Neugebauer, der in diesem Jahr 70 geworden ist, sagt: »Im Rückblick haben wir in einer irrwitzig glücklichen Zeit gelebt.« Dass sie andauere, sei nicht gewiss: »Meine Skepsis ist im Vergleich zu 2001 um einiges größer geworden.«

Dennoch will er die Zuversicht nicht preisgeben. Ein Sinnbild dafür sind die Eintrittskarten für den finalen Abend von ORGAN2/ASLSP am 4. September 2640 – mit denen zugleich eine Lösung für ein sehr praktisches Problem näherrückt. Anfangs finanzierte sich das Projekt, indem Unterstützer »Klangjahre« kaufen und sich dafür auf einer der Metalltafeln verewigen konnten, die an allen Wänden der Kirche angebracht sind. Inzwischen gibt es aber Sponsoren für alle 639 Jahre. Lange suchte man nach einer neuen Idee. Mit den Tickets, von denen jedes 2640 Euro kostet, hofft man, sie gefunden zu haben. Mit dem Erlös, sagt Neugebauer, könnte das Stiftungskapital so aufgestockt werden, dass seine Erträge das Projekt tragen. Und falls einer der Käufer im Sommer 2640 verhindert sei, sei das kein Problem, fügt er hinzu: »Die Tickets sind selbstverständlich übertragbar.«

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