Auf in die Geisterbahn

Die einfache Sache, die schwer zu machen ist: »Zeit abschaffen« fordert der linke Kulturtheoretiker Simon Nagy

Das wäre mal eine kämpferische Forderung für die Gewerkschaften: Schafft die Zeit ab!
Das wäre mal eine kämpferische Forderung für die Gewerkschaften: Schafft die Zeit ab!

Keine oder zu wenig Zeit zu haben, das geht auf die Nerven. Es stresst und macht nervös. Deshalb schossen schon französische Revolutionäre auf Uhren, dem Symbol des aufkommenden Kapitalismus. Deshalb fordert der junge Wiener Kulturtheoretiker Simon Nagy in seinem neuen Buch »Zeit abschaffen«, denn er verabscheut »die ständige Produktion von kaputter, vollgeräumter Zeit«.

Das ist eine maximale Forderung, doch die gesellschaftlichen Kräfte dafür sind minimal, das Versprechen einer besseren Gesellschaft abwesender denn je. Und die freie Zeit scheint noch sogar weniger zu werden, die Jobs noch flexibler und die Vermischung von Arbeit und Nichtarbeit noch rasanter. Problem, Problem! Nagy benutzt einen Trick – er ruft die alten fortschrittlichen Ideen und Bewegungen als Gespenster an. Das haben schon Karl Marx und Friedrich Engels so gehalten: »Ein Gespenst geht um in Europa – das Gespenst des Kommunismus«, lautet der erste Satz in ihrem »Manifest der Kommunistischen Partei« von 1848.

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Das Gespenstische daran ist, dass der Kommunismus bis heute surreal geblieben ist, es gibt und gab ihn nicht. »Er ist gut für dich, erkundige dich nach ihm«, hatte Bertolt Brecht getextet, aber wenn man es heute versucht, sieht es übel aus: Komische Kommunisten, die einem stets erzählen, die Zeit wäre noch nicht reif, während die Welt kaputt geht. Es ist leichter, sich das Ende der Welt vorzustellen als das Ende des Kapitalismus, ist ein beliebtes Bonmot unter frustrierten Linken.

Die Aufbrüche von 1917 und 1968 sind allgemein, wenn überhaupt, nur noch undeutlich im Bewusstsein. Sie gelten bestenfalls als illusionär, meistens jedoch als unsinnig und gewalttätig. Gegen das »Gespenst des Kommunismus« müssen sich »alle Mächte des alten Europa« nicht mehr »zu einer heiligen Hetzjagd« verbünden, wie es noch bei Marx und Engels hieß. Das haben sie in der Vergangenheit schon sehr gründlich erledigt. Aktuell liegt da nichts an. Auch wenn es von den Rechten, von damals Berlusconi bis heute Trump, immer wieder auf absurde und lachhafte Weise aufgerufen wird, indem sie ihre politischen Gegner des »Kommunismus« bezichtigen. Oder wenn die AfD so tut, als wären die Grünen die »neuen Kommunisten«, die alles ruinieren würden.

Nein, die Rechten fürchten das Gespenst nicht mehr und die Linken wollen nicht an Geister glauben. Das ist genau der Fehler, denn das bedeutet die Selbstaufgabe der linken Politik, die mit dem Terror der Ökonomie und mit der Ohnmacht vor den Sachzwängen brechen will: Klimakatastrophe, ansteigender Autoritarismus und vielfache »Weltordnungskriege« (Robert Kurz). Liebe Linke, wenn euch dazu nichts mehr einfällt, dann sagt doch hallo zur Barbarei. Emanzipation? Ende, over, tschüssikowski.

Wenn man sich aber für die Gespenster Zeit nimmt, kann man die Angstfantasien und Bedrängnisse auch umdrehen, um die Diskussion der großen Fragen nicht aufzugeben, sondern neu anzugehen. »Zeit abschaffen« als konsequente politische Forderung, ist sozusagen linkes Spinnertum in sehr gut, anregend und frisch. Angesichts der depressiv-defensiven linken Theorie- und Einfallslosigkeit ist Nagys Essay eins der wichtigen politischen Bücher des Jahres. Und noch dazu in klarer, schöner Sprache gehalten, sodass man es auch gleich kapiert.

»Zeit abschaffen« ist ein radikaler Angriff auf eine zentrale Kategorie des Kapitalismus: Die Verfügung über die Zeit, die aufgewandt wird, um aus Dingen Waren zu machen. Sie werden hergestellt und gehandelt, aber »niemand kauft sich irgendetwas und betrachtet diesen Kauf als direkten Eintausch von eigener, in der Vergangenheit geleisteter Arbeitszeit gegen das neu erworbene Produkt«. Die Zeit ist also in der Ware anwesend und abwesend zugleich – das hat etwas Gespenstisches. Noch gespenstischer ist die Tatsache, dass die Menschen nicht so viel arbeiten müssten, um diese Produkte herzustellen, weil die Produktion immer schneller wird. Doch davon haben sie nichts, denn der Kapitalismus hegt ihre Zeit ein, weil er den Mehrwert will und sonst nichts. Und alle anderen Ideen macht er fertig oder instrumentalisiert sie, so wie der Neoliberalismus die Formen der Selbstermächtigung von 1968 ökonomisierte. Am Ende der lockeren Hippie-Bewegung stehen die strengen Tech-Konzerne von Silicon Valley. Deshalb schlägt Nagy vor, Kapitalismus als »permanente Konterrevolution« zu bezeichnen.

Er folgt dem kanadischen Historiker Moishe Postone, indem es ihm nicht um eine andere Verteilung des Mehrwerts oder des Reichtums geht, sondern um die Produktion selbst, um die »Produktion eines Mangels, der die Gegenwart als stets unfertige und daher nicht zu verlassende konstruiert«, wie Nagy schreibt. Für ihn ist diese Produktion Ausdruck »einer irrationalen und menschenhassenden Wirtschaftsweise«. Durch den technischen Fortschritt produziert der Kapitalismus die Möglichkeit seiner Abschaffung, die er aber ständig unterbinden muss. Das ist ein Kampf gegen »Marx’ Gespenster«, wie der Poststrukturalist Jacques Derrida 1993 sein vielleicht letztes wichtiges Buch nannte, als er sich weigerte, nach dem Untergang der Sowjetunion die Idee der besseren Gesellschaft, beziehungsweise des Kommunismus in die Grube gleich hinterherzuschicken.

Zur Untersuchung dieses Spuks schlug Derrida spielerisch den Begriff Hauntologie vor, gebildet aus dem englischen Wort to haunt (heimsuchen) und Ontologie (die Lehre vom Sein). Das ist ein ebenso griffiges wie effektives Konzept, um utopische Momente, Ansätze und Ziele der Linken disponibel zu halten, auch wenn sie sich nie durchsetzen konnten: Das Gespenst des Kommunismus spukt weiter, im Spannungsfeld zwischen »nicht mehr« und »noch nicht«, wie es der britische Poptheoretiker Mark Fisher formulierte.

Aber auch der Marxismus hat mit Gespenstern zu tun, indem er die Reproduktions- und Care-Arbeit, die traditionell von Frauen in den Familien verrichtet wurde und wird, zur »unsichtbaren« Arbeit oder zur Nichtarbeit erklärt, zu einer vernachlässigenden Kategorie, was von Feministinnen wie Silvia Federici schon lange kritisiert wurde. Denn die Arbeitskraft wird unter isolierten, privatisierten Bedingungen reproduziert, betont Nagy, der die Lohn-für-Hausarbeit-Bewegung der 70er Jahre als revolutionär ansieht, weil es ihr um »die Abschaffung derjenigen Zeit« gegangen sei, »die beständig als Liebe geframed wird, während sie doch beständig Mehrwert produziert, so wie jede mit der Stechuhr gemessene Stunde auch«.

Um das zu begreifen, »braucht es aber einen Begriff von Arbeit, zu dem man nicht kommt, wenn man ausschließlich Typen wie Marx und Postone zitiert, so cool sie auch sein mögen«, meint Nagy, für den die Abschaffung der Zeit aus der Abschaffung der Arbeit und der Familie resultiert. Mal ganz locker formuliert. Er nennt es »einander bedingende Begehren«. Mit Geistern gibt es eigentlich nur ein Problem: Man muss sie sehen können. Nagy zeigt, wie es geht, zum Glück.

Simon Nagy: Zeit abschaffen. Ein hauntologischer Essay gegen die Arbeit, die Familie und die Herrschaft der Zeit. Mit einem Nachwort von Clemens J. Setz, Unrast, 188 S., br., 14 €.

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